# taz.de -- Organspendeskandal in Deutschland: Geld oder Leben | |
> Viele Patienten warten dringend auf rettende Spenderorgane. Doch | |
> Organmangel, knappe Kassen, unklare Regeln und rechtliche Grauzonen | |
> begünstigen Manipulationen. | |
Bild: Wer jetzt wohl noch spendet? | |
BERLIN taz | An den 48 deutschen Transplantationszentren beginnt das | |
Krankenhausjahr mit einer Routinevisite: Die Controller kommen. Es geht um | |
Voraussagen, um Vereinbarungen, um Geschäfte. Die Klinikleiter und Ärzte | |
müssen sich verbindlich festlegen. Wie viele Herztransplantationen soll es | |
bis Jahresende geben? Wie viele Lebern werden verpflanzt? | |
Bauchspeicheldrüsen? Nieren? Lungen? | |
Da werden Zahlen festgezurrt – obwohl doch Anfang Januar niemand sicher | |
wissen kann, wie viele Patienten bis Ende Dezember ein fremdes Organ | |
benötigen werden und dann auch tatsächlich erhalten können. Der Mangel an | |
Spenderorganen ist immens. | |
Trotzdem müssen sich die Planzahlen irgendwie realisieren lassen: Bis zu | |
102.980,43 Euro für eine transplantierte Leber zahlen die gesetzlichen | |
Krankenkassen, bis zu 123.765,58 Euro für ein Herz. | |
Die Krux bei der Berechnung: „Transplantationen werden den Kliniken seit | |
2003 nicht mehr als Gesamtjahresbudget vergütet“, wie der Geschäftsführer | |
der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, sagt, „sondern pro | |
Fall“. Werden weniger Organe verpflanzt als vorausgesehen, hat das Folgen | |
für den Sachkostenschlüssel, den Stellenplan und im Zweifel sogar für die | |
Existenz des Zentrums. Die Zulassung behält nur, wer eine bestimmte | |
jährliche Mindestanzahl von Transplantationen nachweist. | |
Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland nur 4.054-mal Organe Verstorbener | |
verpflanzt. Da mutete die Konkurrenz zwischen den 48 Zentren an wie eine – | |
um im Bild zu bleiben – Schlacht um Leben und Tod. | |
## Zum Schummeln gedrängt | |
„Der wirtschaftliche Druck, der von den Controllern auf die Ärzte ausgeübt | |
wird, ist mitunter immens. Das betrifft kleinere Häuser wie Unikliniken | |
gleichermaßen. Ich kann mir vorstellen, dass es unter diesem Druck dann | |
auch den ein oder anderen Arzt gibt, der unethisch handelt.“ Helmut | |
Arbogast spricht aus, was unter Ärzten spätestens seit den Skandalen von | |
Göttingen und Regensburg diskutiert wird. | |
Er ist Oberarzt an der Ludwig-Maximilians-Universität München, | |
spezialisiert auf Bauchspeicheldrüsentransplantationen, sowie | |
Vorstandsmitglied der Deutschen Transplantationsgesellschaft und kein | |
Gegner des Systems: 2013 soll er als Medizinischer Vorstand zur Deutschen | |
Stiftung Organtransplantation nach Frankfurt wechseln und damit oberster | |
Chef der Organspende werden. „Wir Ärzte werden durch pekuniäre Zwänge dazu | |
ermutigt, nicht unbedingt die für den Patienten bestmögliche Therapie | |
auszuwählen, sondern eine preiswerte. Oder eine, die eine lukrative | |
Fallpauschale verspricht“, sagt er. | |
Um Missverständnissen zuvorzukommen: Arbogast betont, er habe keinerlei | |
Mitgefühl mit denjenigen Kollegen, die offenbar auf kriminelle Art in | |
Regensburg und Göttingen Daten und Laborwerte manipuliert haben, um ihre | |
eigenen Patienten auf der Organwarteliste nach oben zu manövrieren – auf | |
Kosten weitaus Bedürftigerer andernorts und zugunsten ihrer eigenen | |
Statistik, ihres Renommees und der Klinikeinnahmen. | |
Klar ist: Nicht nur die Transplanteure, sondern viele andere Ärzte stehen | |
unter demselben ökonomischen Druck, möglichst viel zu operieren, Knie- und | |
Hüftchirurgen etwa. Aber was Arbogast und andere Kollegen – einige anonym, | |
aus Angst vor Sanktionen – berichten, kann verstehen helfen, weshalb die | |
Transplantationschirurgie eine Sparte innerhalb der Medizin ist, die | |
aufgrund systemimmanenter Interessenkonflikte und Fehlanreize anfällig ist | |
für Manipulationen, die häufig in einer rechtlichen Grauzone liegen. | |
## Etwas länger beatmen | |
Das fängt an bei vermeintlich objektiven Dingen wie den Fallpauschalen. | |
Eine Lebertransplantation, nach der der Patient kürzer als 180 Stunden | |
beatmet werden muss, wird mit 44.750,30 Euro vergütet. Wird länger beatmet, | |
bekommt die Klinik den Höchstsatz: 102.980,43 Euro. Dahinter steckt die | |
korrekte Annahme, dass künstliche Beatmung auf Intensivstationen ebenso | |
kosten- wie personalintensiv ist. | |
Was aber, wenn der Patient just nach 177 Stunden Beatmung stabil ist? Nur | |
drei Stunden mehr, und die Klinik bekäme mehr als das Doppelte! „Sie müssen | |
den Patienten nicht einmal regelwidrig an der Beatmungsmaschine lassen“, | |
verrät ein Insider. „Es reicht, ihm für die fehlenden drei Stunden eine | |
kleine Atemunterstützungsmaske aufzusetzen, was dann auch als Beatmung | |
abgerechnet werden darf.“ | |
Bei den Nieren wiederum haben Ärzte einen Ermessensspielraum, ab wann die | |
Ausscheidungswerte nach der Transplantation als optimal gelten. Manchmal | |
lässt sich mit einer erneuten Dialyse nachhelfen. Der Vergütungsunterschied | |
beträgt mehrere tausend Euro. Für die Klinik ist dies interessant, die | |
Dialysemaschine ist sowieso da. | |
Ganz legal beeinflussen lassen sich auch die Leberwerte: Der Gerinnungswert | |
etwa – einer der drei Werte, die darüber entscheiden, ob der Patient weiter | |
oben oder unten auf der Warteliste landet – ist derzeit abhängig von der | |
Bestimmungsweise des jeweiligen Labors, erklärt der Medizinische Direktor | |
der Stiftung Eurotransplant, Axel Rahmel, zuständig für die Organverteilung | |
in sieben europäischen Ländern. | |
## Ärzte im Dilemma | |
Die Diskrepanzen seien bemerkenswert. Rahmel: „Ich sehe das durchaus | |
problematisch, aber derzeit verfügen wir über kein besseres System.“ | |
Dasselbe Blut kann also zu unterschiedlichen Überlebenschancen führen – | |
abhängig davon, an welches Labor der Arzt es zur Untersuchung schickt. | |
Solange nicht genug Organe zur Verfügung stehen, „wird jeder Arzt | |
versuchen, dass der eigene Patient ein Organ bekommt“, sagt Uwe Heeman, | |
Leiter des Transplantationszentrums an der Technischen Universität München. | |
Damit aber geraten die Ärzte in ein Dilemma: Viele wollen ihren Patienten | |
bestmöglich helfen. Zugleich hängt ihre berufliche Zukunft von der Zahl der | |
Transplantationen ab. Als Kompromiss werden zunehmend auch Organe | |
verpflanzt, die man vor 20 Jahren noch verworfen hätte, sagt Helmut | |
Arbogast: Lebern von fettleibigen Alten etwa, Nieren von Verstorbenen mit | |
bestimmten Hirn- oder Hauttumoren, die nach Stand der Wissenschaft jedoch | |
nicht streuen, Bauchspeicheldrüsen von über 50-jährigen mit eingeschränkter | |
Funktionstüchtigkeit. Sogar Organe von Hepatitis-Infizierten und | |
HIV-Positiven werden nicht unbedingt abgelehnt. | |
Richtig ist aber auch: Die medizinischen Möglichkeiten, nichtoptimale | |
Organe erfolgreich zu verpflanzen, haben sich verbessert. Zudem sind viele | |
Empfänger älter und kränker als früher. Diese Patienten hätten oft keine | |
Chance, ein hochwertiges Organ zu erhalten, sagt Roland Hetzer, Direktor | |
des Deutschen Herzzentrums Berlin. | |
## Verzweifelte Entscheidung | |
Seit zehn Jahren dürfen die „nichthochwertigen“ Organe nach den Richtlinien | |
der Bundesärztekammer im sogenannten beschleunigten Verfahren vergeben | |
werden. In ihrer Verzweiflung klammern sich viele Patienten an diesen | |
Strohhalm, zumal ihre Vertrauensärzte ihnen oft dazu raten. Heemann: „Je | |
mehr transplantiert wird, desto mehr Geld gibt es. Klar ist das ein | |
Fehlanreiz.“ | |
Weiteres Problem: Die beschleunigte Vergabe – ursprünglich als Ausnahme | |
gedacht – wird immer häufiger. Doch die Kriterien für die Zuteilung dieser | |
nichtoptimalen Organe sind nicht transparent. Die Zuteilung erfolgt nach | |
der subjektiven und schwer überprüfbaren Einschätzung des behandelnden | |
Arztes. Die Zahl stieg zwischen 2002 und 2012 dramatisch an: bei den Lebern | |
von 9,1 auf 37,1 Prozent, bei den Herzen von 8,4 auf 25,8 Prozent, bei den | |
Lungen von 10,6 auf 30,3 Prozent und bei den Bauchspeicheldrüsen von 6,3 | |
auf 43,7 Prozent. | |
Das liegt nicht nur daran, dass mehr ältere und kränkere Spender dabei sind | |
als früher. Der Anteil der über 65-jährigen Spender stieg in dieser Zeit | |
nach Angaben der gesetzlichen Krankenkassen lediglich von 20 auf 30 | |
Prozent. | |
Was das bedeutet? Die von der Bundesärztekammer geschaffene Definition, was | |
ein schwer vermittelbares Organ ist, lässt den meldenden Ärzten offenbar | |
Spielräume. Spielräume, ein Organ kränker einzustufen, als es eigentlich | |
ist – in der Hoffnung, dass es dann niemand anders haben will. Und es somit | |
den eigenen Patienten nutzen kann. Und der eigenen Klinik. | |
12 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
## TAGS | |
Organspende-Skandal | |
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