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# taz.de -- Onliner und Amokläufer: Das Netz frisst seine Kinder
> Die Netzkinder teilen viele Merkmale mit Amokläufern. Zwischen Selbstbild
> und der Fremdbeschreibung liegt eine große Differenz. Und viel Spielraum
> für Missverständnisse.
Bild: Zeigen oder nicht zeigen? Oder zeigen, dass nicht gezeigt wird?
Am 6. Mai 2002 brachte der Spiegel [1][auf seinem Titel eine Collage zu
Erfurt], Überschrift: „Das Leben und töten des Robert S.“ Zu sehen waren
private Schnappschüsse des Amokläufers, als Baby, im Urlaub, als junger
Mann. Es folgte eine Diskussion über die Rolle der Medien, wie sie die USA
nach Columbine bereits geführt hatte: wie sehr sich Zeitungen und
Fernsehsender zum Komplizen der Attentäter machen, und wie sehr sie durch
ihre schlaglichtartige Aufmerksamkeit neue Amokläufe provozieren.
Im März 2009 veröffentlichte der Chefradakteur der Welt am Sonntag, Thomas
Schmid, einen Kommentar, in dem er nach Winnenden „Krethi und Plethi“ aus
dem Internet verantwortlich machte, den Amokläufer zu glorifizieren und ihm
[2][ein Denkmal zu setzen]. Gleichzeitig brachte das Schwesterblatt Bild
eine Aufnahme des jungen Mannes, auf der ihm ein Kampfanzug angephotoshoppt
wurde.
Nach Winnenden entwickelte sich eine sehr differenzierte Debatte über die
Rolle der Medien, nachdem [3][die „Sensationskarawane“ von
Übertragungswagen] in den Ort eingefallen war. Während ein Teil der
Kommentatoren weiter auf die Trias der zersetzenden Populärkultur
„gewaltverherrlichende Filme, Videospiele, Internet“ verwiesen,
thematisierten [4][nachdenklich gewordene Berichterstatter] ihre eigene
Rolle.
Im November 2011 [5][zeigte das Titelbild des Spiegels] Anders Breiviks
weichgezeichnetes, in rot gehaltenes Porträt. Vor einigen Tagen beschrieb
Ingeborg Harms [6][auf Zeit Online], wie Amokläufer um Bewunderung ringen;
am ende heißt es: „Einer wie James Holmes zeigt ihnen den Königsweg ins
kollektive Gedächtnis.“ Illustriert ist das Stück mit einem Foto von –
James Holmes.
Im letzten Teil stand die These im Raum, dass die Netzkinder (Generation
30-, digitale Profis bzw. Avantgarde) in einer medialen vermittelten Welt
leben, den Medien aber immer weniger trauen. Sie sind, wenn man
[7][diversen Studien] folgt, eher männlich, gebildet und, nunja, jung.
Gerade beim Thema Amoklauf klaffen zwischen ihrer Erfahrungswelt und
Selbstwahrnehmung einerseits und medialer Fremddarstellung andererseits
riesige Lücken, denn sie teilen sich mit vielen Attentätern nicht nur die
soziologischen Rahmendaten, sondern auch gewisse kulturelle Vorlieben;
insbesondere die These von den Killerspielen, als aggressionsfördernd
angenommene Musik und der ([8][statistisch nicht belegten]) Verrohung der
Jugend betrifft sie selbst; es ist ihre kulturelle Praxis, die in Frage
steht.
## Melden, dass es nichts zu vermelden gibt
Aber wie darauf reagieren? Die Debatte über die Gefährlichkeit von
Killerspielen beispielsweise fängt immer wieder ganz vorne an; das liegt
vor allem auch daran, dass das Internet das Wort News sehr genau nimmt, in
jeder Hinsicht. Liveticker, nicht nur über Amokläufe, gehören zu fast jedem
Online-Auftritt; selbst wenn es nichts zu vermelden gibt, ist es besser, zu
melden, dass es nichts zu vermelden gibt.
In solchen Momenten ist das Internet ist ein Hastplatz: Man tritt auf der
Stelle, das aber schnell. Für Analysen und Hintergründe fehlt dann die
Zeit: Alles, worauf man sich beziehen kann, sind Klischees und das, was
andere aufgeschrieben haben. Die Taktik mag man „Déjà-su“ nennen: Man
schreibt auf, was der Leser vermutlich ohnehin schon weiß, nur nicht in
diesen Worten.
Nicht nur diese Artikel werden immer schneller geschrieben, insgesamt hat
das Internet die Zeitnot für Journalisten verschärft. Das ist weithin
bekannt; etwas weniger geläufig ist, dass diese Artikel auch immer
schneller gelesen werden. Zwanzig Prozent schneller, sagen diverse Studien,
andere sprechen davon, dass am Bildschirm überhaupt nicht mehr gelesen,
sondern der Text nur noch grob nach seinem Kern gescannt wird.
Studien, die ein besseres Textverständnis durch Bildschirmlektüre annehmen,
existieren nicht. Neuere Untersuchungen gehen davon aus, dass sich das
Textverständnis durch die Lektüre an Smartphones nochmal deutlich
verschärfen wird.
Es gibt also einerseits die Differenz zwischen Selbstbild und Beschreibung,
die dank des Netzes [9][jeder Betroffene kommunizieren] kann. Und
andererseits wächst der Spielraum für Missverständnisse. Die pathetische
Selbstbehauptung der Medien, die Welt zu sein oder auch nur sie im Focus zu
haben, unverzichtbarer Spiegel der Zeit usw. wirkt da wie ein kalkuliertes
Trugbild. Besonders lustig: Dass die Behauptung der großen Verleger,
ritterliche Verfechter und Garanten einer funktionierenden Presse zu sein
und deswegen ein Leistungsschutzrecht in Anspruch nehmen zu wollen, in
ihren Häusern geradewegs [10][zu miserablem Journalismus] führt.
## Ein Hort der Spitzzüngigkeit
Die Distanzierung führt geradewegs zu einer Ablehnung jedes Pathos' und hin
zu einer bitteren Leichtigkeit. „Meine Nische ist die Ironische“, sagte
einst Sascha Lobo und hat damit das Grundgefühl von Twitter treffend
zusammengefasst.
Anders als in Frankreich oder Amerika, wo die reichweitenstärksten Tweets
inzwischen von Popstars, Sportlern, anderen Teenager-Idolen oder schlicht
Kalenderspruchaggregatoren produziert werden, ist das deutsche Twitter ein
Hort der Spitzzüngigkeit und der avantgardistischen Verweigerungshaltung
gegenüber dem Mainstream: das deutsche Twitter besteht darauf, eigene
Helden hervorzubringen, und wehrt sich gegen ignorante Eindringlinge. Hans
Sarpei statt Oli Kahn.
Seit Beginn der Blogs wartet man darauf, dass dieses System der
Berichterstattung, in dem man sich und die Welt nicht wiedererkennt,
auseinanderfällt. Bisher vergebens, aber man glaubt den Fortschritt auf
seiner Seite zu wissen. Kann nicht mehr lange dauern.
21 Aug 2012
## LINKS
[1] http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2002-19.html
[2] http://www.stefan-niggemeier.de/blog/der-kulturkampf-gegen-das-web-20/
[3] http://www.wuv.de/nachrichten/medien/medien_terror_in_winnenden_die_sensati…
[4] /!49318/
[5] http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2011-31.html
[6] http://www.zeit.de/2012/32/Massenmoerder-Attentat-Aurora/seite-1
[7] http://www.ecc-handel.de/grundlegende_einteilungen_der_internetnutzer.php
[8] http://www.spreeblick.com/2010/07/13/die-verzerrte-fratze-der-brutalen-juge…
[9] /CSU-Politikerin-Dagmar-Woehrl-und-das-Netz/!88837/
[10] http://www.stefan-niggemeier.de/blog/ein-kartell-nutzt-seine-macht-wie-die…
## AUTOREN
Frédéric Valin
## TAGS
Schießerei
Anders Breivik
Schwerpunkt Urheberrecht
Schwerpunkt Urheberrecht
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