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# taz.de -- Mahnmal Deportationslager Les Milles: Staub und Elend
> In Frankreich wurde das ehemalige Internierungs- und Deportationslager
> Les Milles eröffnet: als Mahnmal gegen Menschenverfolgung.
Bild: Mahnmal Les Milles – das einzige große intakte ehemalige Internierungs…
„Überall lagen zerbrochene Ziegel, überall Ziegelsteinstaub, sogar im
kargen Essen, das uns zugeteilt wurde.“ Der orangerote Staub setzte sich in
die Poren, vermischte sich mit dem Schweiß der Häftlinge. Für den Maler Max
Ernst und seine Mithäftlinge wurde er zur unwillkürlichen Erinnerung an die
Wochen und Monate der Internierung – 1939/40 – im Lager Les Milles.
Noch heute liegt dieser feine Staub in der Luft, trocknet die
Nasenschleimhäute, knirscht zwischen den Zähnen. Noch immer sieht man die
gebrannten Dachziegel auf weiten Industriebrachen, umgeben von dürren
provenzalischen Sträuchern und Bahngleisen.
Doch die Ziegelfabrikation ist aus ihrem backsteinernen Stammsitz ein paar
Meter weiter gen Westen gezogen. Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzungen
zwischen Staat, Region, Stadt und nicht zuletzt zwischen den
unterschiedlichen Initiativgruppen vor Ort hat die Industrie einer
Gedenkstätte für die Häftlinge und Opfer von Les Milles Platz gemacht.
Am vergangenen Montag konnte die „Stiftung des Lagers Les Milles –
Erinnerung und Bildung“ sie nach unzähligen Anläufen nun (wohl auch dank
des anstehenden Kulturstadt-Marseille-Jahres 2013) in Anwesenheit des
französischen Premierministers als einziges großes intaktes ehemaliges
Internierungs- und Deportationslager Frankreichs einweihen.
## Freund und Feind
Les Milles: Ein Stadtteil von Aix-en-Provence, nur wenige Kilometer vom
Stadtzentrum entfernt. Auf dem Marktplatz in der Bar Le Central gibt es den
ersten Pastis zum 10-Uhr-Kaffee und der WLAN-Anschluss heißt „Duck at the
end“. Die Taxifahrer am ausgelagerten TGV-Bahnhof Aix wissen vom einstigen
Lager der Republik nichts, nichts vom Internierungslager der Republik, in
demnach der Kriegserklärung von 1939 die „Feinde“ festgehalten wurden, jene
Frankreichfreunde deutscher und österreichischer Herkunft, die als
Emigranten vor den Nazis ans Mittelmeer geflüchtet waren und nun plötzlich
mit diesem Frankreich im Krieg stehen sollten: darunter die halbe deutsche
Intelligenz von Max Ernst bis Franz Hessel, Hans Bellmer, Lion
Feuchtwanger, Alfred Kantorowicz.
Und nichts weiß der sympathische Taxifahrer am Steuer des schwarzen
Mercedes von jenen Juden-Deportationen aus Les Milles im August 1942, als
die französischen Kollaborateure den deutschen Nazis nicht nur die
geforderten 10.000 jüdischen Männer und Frauen lieferten, sondern sich
dabei auch noch freiwillig derer Kinder entledigten. Allein in Les Milles
wurden über 2.000 Menschen aus der Umgebung, wie den Flüchtlingshotels in
Marseille, zusammengetrieben und in vier großen Transporten über Drancy
nach Auschwitz verschleppt.
Nein, nie gehört. Selbst die kleine Buchhandlung des Städtchens, neben der
Bar Le Central, kann statt Lektüre nur eine ungefähre Handbewegung hin zum
„Camp“ bieten. Aber das soll sich alles ändern. Auch in La France profonde
wird nun Chiracs Botschaft von 1995 ankommen, die in den französischen
Metropolen längst erinnerungspolitischer Meisterdiskurs ist, unablässig
wiederholt von Sarkozy bis Hollande: die Botschaft von der tiefen Mitschuld
des französischen Staats an der Schoah.
## Zug des Kommandanten
Keine zehn Minuten dauert der Fußweg in die nahen Brachen am Ortsausgang
von Les Milles, aus der sich das 15.000 Quadratmeter große Denkmal der
Ziegelei als das Versailles des Industriezeitalters emporreckt. In ihren
verzweifelten Fluchtbewegungen entlang dem europäischen Mittelmeerstrand
zogen in den drei Jahren, in denen sich die Umklammerung der deutschen und
französischen Faschisten zuzog, bis zu 10.000 Verfolgte durch dieses
provisorische Lager. Nachdem es während des kurzen Kriegs im Frühsommer
1940 Internierungslager war, wurde es übergangsweise zum Transitort für
Emigranten, ähnlich wie die Lager, Gurs, Rivesaltes, die schon zu
Republikzeiten als Auffanglager für ungeliebte Rotspanier oder nach 1945
für die aus Algerien geflüchteten Harkis dienten.
Im engen Zeitkorridor zwischen dem Auslieferungsbegehren der Nazis und der
Fluchthilfe über die Pyrenäen durch Initiativen wie Varian Frys US
Emergency Rescue Committee (ERC) gelang einigen tausend Menschen die Flucht
übers Meer. Andere Initiativen scheiterten kläglich – wie der Geisterzug
des Les-Milles-Lagerkommandanten Perrochon mit Hunderten Emigranten an
Bord, der in Nîmes stranden sollte. Andere, wie Franz Hessel, der Berliner
Flaneur und erste Proust-Übersetzer, oder sein Freund Walter Benjamin und
der Schriftsteller Walter Hasenclever, starben erschöpft – im Exil von
Sanary, im Lager von Les Milles oder an der spanischen Grenze; bald danach
begannen die Massendeporationen.
Eine professionelle Ausstellungsarchitektur mit langen Übersichtstafeln und
18 Dia-Installationen zu Einzelschicksalen im Raum erzählt diese Geschichte
im Eingang der Ziegelei. Eine Bibliothek, eine Sammlung, Seminarräume
sollen die Erinnerungsarbeit hier bald ergänzen. Die Chronik beginnt 1919,
führt bis zur Schließung des Lagers, nachdem die Deutschen auch in den
Süden Frankreichs einmarschiert waren, im November 1942, und wird flankiert
von den Botschaften einer modernen Genozidforschung, die in der Ziegelei
von Les Milles nun einen ihrer stringentesten Ableger gefunden hat: das
Narrativ von einer fast zwangsläufigen Verkettung der Mechanismen von
Rassismus, Antisemitismus, Demokratieunfähigkeit auf dem Weg in unerhörte
Verbrechen.
## Das Schweigen von Kunst und Text
Aus der Ausstellung führt der Parcours hinein in die Gewölbe und Höhlen im
Erdgeschoss der vierstöckigen Brennerei: der Erinnerungsort. Die dauerhafte
Bewahrung und Öffnung dieser Räume bleibt das Hauptverdienst der
Initiatoren um den Soziologen Alain Chouraqui. Unzählige Spuren sprechen
hier von jenem äußerst regen Kulturaustausch unter Extrembedingungen, der
vor allem in den Anfangszeiten stattfand: in der „Katakombe“ mit ihren
Backsteinbänken, in der des Nachts Theater gespielt und vorgetragen wurde,
in den freigelegten Zeichnungen auf rohen Betonsäulen und Stahlbetonbalken,
in den noch verborgenen Malereien, die sich heute blau schimmernd durch
später darübergelegte Putzschichten bemerkbar machen – 1945 hatte die
Ziegelei ihre Arbeit wieder aufgenommen. Und zuletzt das Schweigen von
Kunst und Text – glücklicherweise kaum von Ausstellungüberbauung gestört �…
das über den riesigen Hallen in den Obergeschossen liegt, wo die Männer und
einen Stock höher die Frauen und Kinder im August 1942 auf ihren
Abtransport warteten.
Mit einem Etat von gerade mal 1,5 Millionen Euro und erhofften Einnahmen
von einer weiteren Million durch jährlich hunderttausend zahlende Besucher
beginnt hier nun die eigentliche Arbeit. 25 Mitarbeiter stehen Alain
Chouraqui, dem sehr gegenwärtigen Präsidenten der Les-Milles-Stiftung zur
Seite – 2010 waren es zwei. Hinzu kommt sein Forschungsinstitut an der Uni
Aix, kommen externe Archäologen, die bezahlt werden müssen, kommt der
Aufbau der Infrastruktur für Forscher und Schülergruppen und eine
historische Forschung, die in vieler Hinsicht sicherlich erst am Anfang
steht. Die Grundlagen aber sind mit der didaktischen Wegführung durch das
Gebäude gelegt, auch wenn die Wandtafeln mit den riesigen Mindmaps und
sozialpsychologischen Erklärungsmodellen am Ende eher erschlagen – aber
auch dies gehört zu einer ordentlichen Task-Force-Education über die
weltweiten Genozide am Beispiel der Schoah.
## Kampagne gegen den Abriss
Nicht staatlich verordnet, sondern aus einem zivilen Widerstandsakt war
Chouraquis Initiative entstanden und hat sich gegen mannigfache
Schwierigkeiten und Konkurrenz durchgesetzt. Den Anfang markierte das Jahr
1983 mit der erfolgreichen Kampagne gegen den Abriss des kleinen „Salle des
peintures murales“: des Wachhäuschens am Eingang der Ziegelei, in denen
noch heute die von der Lagerverwaltung beauftragten, ironisch gebrochenen
Fresken und Wandmalereien der Häftlinge Karl Bodek oder Max Lingner zu
sehen sind. Das Häuschen blieb erhalten und prägt mit dem 1992 gesetzten
symbolischen Viehwaggon auf den Gleisen gegenüber das Außenbild der
Gedenkstätte.
In einem Subtext erzählt es zugleich von den beinharten
erinnerungspolitischen Kämpfen der Initiative mit dem Deutschlehrer André
Fontaine, dem mit seinen Recherchen, Veröffentlichungen und ersten
Kampagnen seit 1979 die Anerkennung eines Ursprungsverdienstes für die
Rettung der historischen Stätte zusteht. Der Name Fontaine aber ist in den
Annalen der Gedenkstätte nicht zu finden.
Seine Entfernung steht wohl auch für das Scheitern eines Einzelnen am
französischen Erinnerungsdiskurs, der nationale Résistance- und weltweite
Genozidforschung derzeit eher kurzschließt und der von einer
europäisierenden Erzählung, wie sie in Deutschland gerade en vogue ist,
wenig wissen will. Aber diese Erzählung kann hier auch noch ein paar Jahre
warten.
13 Sep 2012
## AUTOREN
Fritz von Klinggräff
## TAGS
Ausstellung
Mexiko
Hollande
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