| # taz.de -- John Cales neues Album: „Ich wollte Dirigent werden“ | |
| > Der 70-Jährige Musiker John Cale über seine Tournee, Bratschen, HipHop, | |
| > Drogen und die Zeit mit Velvet Underground. | |
| Bild: John Cale: „Meine Musik war nie neben der Spur, mein Benehmen schon“. | |
| Beim Interview verzieht John Cale keine Miene. Manchmal verharrt sein Blick | |
| in der Ferne – immer dann, wenn ihm eine Frage nicht passt. Mit ernstem | |
| Gesichtsausdruck doziert der gebürtige Waliser über Klassik, Avantgarde und | |
| seine Zeit mit Velvet Underground. Für sein neues Album „Shifty Adventures | |
| In Nookie Wood“ hat er analoge Instrumente mit elektronischen Beats | |
| vermischt. Ein Versuch, dem Mainstream ein Schnippchen zu schlagen. | |
| taz: Mr Cale, Sie sind 70 Jahre alt, machen seit mehr als 50 Jahren Musik. | |
| Was treibt Sie an? | |
| John Cale: Verschiedene Dinge. Ich finde den Songwriting-Prozess nach wie | |
| vor spannend. Dazu kommt, dass ich ein recht ungeduldiger Mensch bin. | |
| Deshalb habe ich oft das Gefühl, nicht effizient genug zu arbeiten. Ich | |
| frage mich dauernd, wie ich wohl meine Fertigkeiten als Komponist | |
| verfeinern kann. Schließlich will ich meine Zeit nicht verschwenden, | |
| sondern außergewöhnliche Klänge erkunden. | |
| Welche Rolle spielt Ihre musikalische Vergangenheit? | |
| Naturgemäß kann ich sie nicht verleugnen – sie ist ein Teil von mir. Aber | |
| es reizt mich überhaupt nicht, meine alten Sachen mit jedem weiteren Album | |
| zu wiederholen. Mein Ziel ist es, völlig neue musikalische Formen für ein | |
| Stück zu entdecken. Wenn ich zum Beispiel den Refrain gegen die Strophe | |
| austausche, klingt ein Song viel interessanter, weil damit die alte Ordnung | |
| durcheinandergebracht wird. | |
| Betrachten Sie Ihre Musik stets als Work in Progress? | |
| Unbedingt. Für mein neues Werk „Shifty Adventures In Nookie Wood“ habe ich | |
| mich nicht zum Komponieren ans Klavier gesetzt und auch nicht zur Gitarre | |
| gegriffen. Ausgangsbasis für die Songs waren elektronisch generierte | |
| Drumbeats. Irgendwann gesellte sich ein Bass hinzu. So entwickelte ich | |
| allmählich eine konkrete musikalische Idee. Weder Tempo noch Rhythmus waren | |
| so, wie ich sie ursprünglich geplant hatte. | |
| Sie orientieren sich an den Parametern der Minimal Music. Haben Sie sich | |
| nie von ihr lossagen wollen? | |
| Wozu? Mit der Reduktion von Minimal Music kann ich ganz wunderbar | |
| experimentieren. Sie lässt sich ohne weiteres auf die Sphäre der | |
| elektronischen Musik übertragen. | |
| Sind Sie dort inzwischen heimischer als in der Klassik? | |
| Ich habe mich nie völlig von klassischer Musik abgewendet. Im Gegenteil: In | |
| Brooklyn gibt es ein paar äußerst begabte Nachwuchskomponisten, mit deren | |
| Werken ich mich intensiv auseinandersetze. Meiner Ansicht nach tut sich | |
| gerade sehr viel auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik. | |
| Machen Sie unter den jungen Talenten einen neuen John Cage aus? | |
| Darauf kommt es nun wirklich nicht an. Entscheidend ist doch, dass junge | |
| Komponisten ihren eigenen Stil finden. So wie Cage seinerzeit. Seine Werke | |
| waren ziemlich abstrakt, darum faszinieren sie mich bis heute. | |
| Was bedeutet Ihnen Stille? | |
| Ich schätze sie außerordentlich. Deswegen schütze ich mich vor einer | |
| musikalischen Dauerberieselung und verzichte aufs Radio. Sonst würde ich | |
| womöglich irgendwo eine Melodie aufschnappen, die ich dann unbewusst in | |
| meine eigene Musik einfließt. Das wäre eine Katastrophe! | |
| Sie ignorieren Trends? | |
| Nein. HipHop finde ich hochinteressant und innovativ. Ist Ihnen klar, dass | |
| sich Pharrell Williams an der Musique concrète orientiert? Besonders gut | |
| zeigt sich das an dem von ihm produzierten Snoop-Dogg-Track „Drop It Like | |
| it‘s Hot“. Sein Arrangement zeichnet sich durch Minimalismus aus. Trotzdem | |
| stecken viele raffinierte Details drin. | |
| Haben Sie deshalb den HipHop-Produzenten Danger Mouse für Ihr neues Album | |
| engagiert? | |
| Als er das zweite Album der Band The Shortwave Set produzierte, lud er mich | |
| ein, mit ihnen Bratsche und Synthesizer zu spielen. Nebenbei entstanden ein | |
| paar Songs, die wir nie zu Ende brachten. „I Wanna Talk 2 U“ war einer von | |
| ihnen – für mein neues Album habe ich ihn noch ein wenig überarbeitet. | |
| Trotzdem hört man bei dieser sanften Nummer deutlich den Einfluss von | |
| Danger Mouse heraus. Meine Stücke sind ansonsten viel rauer. | |
| Was sagen Ihnen die Vorstellungswelten der Rapper? | |
| Ich gebe zu: Macho-Gehabe kann ich nicht leiden, Sexismus widert mich an. | |
| Aber es gibt Ausnahmen, die mit Ironie und Humor zu jonglieren wissen. | |
| Kokane ist so ein Fall. Er pflegt in seinen Raps in drei, vier verschiedene | |
| Persönlichkeiten zu schlüpfen. Böser geht es nicht! | |
| Leuchten Sie in Ihren Stücken auch die Abgründe der menschlichen Seele aus? | |
| Zumindest treibt mich in meinem Song „Hemingway“ die Frage um, wie der | |
| Spanische Bürgerkrieg den amerikanischen Schriftsteller verändert hat. | |
| Wahrscheinlich ließ ihn das Horrorszenario, das er in Guernica erlebte, nie | |
| wieder los. Er trug es vermutlich wie ein Trauma mit sich herum. | |
| Gibt es in Ihrem Leben ebenfalls Dinge, die Sie nicht mehr losgelassen | |
| haben? | |
| Ich hätte mich lieber von Drogen fernhalten sollen. Anfangs dachte ich, ich | |
| würde dadurch zu kreativen Höhenflügen angetrieben. Das war ein fataler | |
| Irrtum. Als ich endlich clean war, merkte ich, dass ich meine Produktivität | |
| binnen kürzester Zeit steigern konnte. | |
| Sie bereuen also Ihre Drogenexperimente? | |
| Sicherlich haben mich meine Exzesse nicht weitergebracht. Aber wenigstens | |
| habe ich immer kontinuierlich gearbeitet. Meine Musik war nie neben der | |
| Spur, mein Benehmen schon. | |
| Mit Lou Reed lagen Sie bei Velvet Underground ständig im Zwist. | |
| Dabei ging es aber stets um künstlerische Fragen. Wir haben damals intensiv | |
| experimentiert, auch mit Drogen, und definierten uns als Avantgardisten, | |
| die ihren eigenen Weg gehen wollten. Jenseits der ausgetretenen Pfade. | |
| Passte Sängerin Nico denn in dieses Konzept? | |
| Als Andy Warhol sie anschleppte, waren weder Lou noch ich begeistert, denn | |
| wir hatten zuvor mit Musikerinnen nicht die besten Erfahrungen gemacht. | |
| Meist standen Lou und ich im Kampf um die Gunst der Frauen in Konkurrenz | |
| zueinander. Nico jedoch gab uns tatsächlich künstlerischen Input. Dank | |
| ihrer Anwesenheit schrieb Lou tolle Liebeslieder. | |
| Wie ist Ihr Verhältnis zu Lou Reed heute? | |
| Wir sind Geschäftsführer einer gemeinsamen Firma, insofern müssen wir uns | |
| ab und an zusammenraufen. Ansonsten kümmert sich jeder von uns um seine | |
| eigenen Projekte. | |
| Stimmt es, dass Sie Ihre gemeinsame Zeit verfilmen wollen? | |
| Eines Tages kam ich auf die Idee, ein Drehbuch zu schreiben. Es handelt | |
| davon, wie der junge Mozart in den sechziger Jahren nach New York kommt. | |
| Sicherlich ist da eine ganze Menge Persönliches mit eingeflossen, man | |
| könnte vielleicht sogar von einer versteckten Autobiografie sprechen. | |
| Allerdings ist die Geschichte noch nicht ausgereift. | |
| Träumten Sie von einer Karriere als Rockstar, als Sie in den frühen 60ern | |
| nach London ans Konservatorium kamen? | |
| Ursprünglich war es mein Plan, Dirigent zu werden. Ich begeisterte mich für | |
| Sinfonien, konnte sie akribisch analysieren. Davon profitiere ich noch | |
| heute, wenn ich einen Song schreibe. Ich spiele mit seinen Strukturen, bis | |
| ich mit dem Ergebnis zufrieden bin. Dann studiere ich das Stück mit meinen | |
| Musikern ein. Das ist für mich ein wunderbarer Moment, weil ich mich ein | |
| bisschen wie der Dirigent fühle, der ich so gern geworden wäre. | |
| Was bedeutet Ihnen die Bratsche, die Sie in den Rock ’n’ Roll eingeführt | |
| haben? | |
| Ich liebe es, ihr atypische Klänge zu entlocken. Darum habe ich sie bewusst | |
| von der Norm abweichend gestimmt. Wenn ich sie heute einsetze, kreiere ich | |
| beinahe von selbst eine ungewöhnliche Atmosphäre. Das ist genau das, worauf | |
| es bei meiner Musik ankommt. Glattgebügelte Hooklines interessieren mich | |
| nicht. Ich möchte musikalisch immer wieder Neuland betreten. | |
| 21 Sep 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Dagmar Leischow | |
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