# taz.de -- Open-Source-Projekt: Das gläserne Rathaus | |
> Die Organisation Code for America stellt Webentwickler neu ein. Sie | |
> sollen Informationen der Stadtverwaltung öffentlich zugänglich machen. | |
Bild: Open Government? Open Source? Open Data? | |
OAKLAND taz | Jessica Lord verdient jetzt ein Drittel weniger, sie kommt | |
deutlich seltener zum Nähen, und ihre eigene Homepage vernachlässigt sie | |
auch, aber sie hat den Eindruck, dass sie etwas Bedeutendes tut. „Wir | |
glauben daran, dass Technologie unsere Regierungen besser machen kann“, | |
sagt Lord, 28 Jahre alt, aufgewachsen in Georgia, im Süden der USA, in der | |
Nähe eines Luftwaffenstützpunkts. | |
Sie hat ihren Job als Stadtplanerin aufgegeben und ist nach San Francisco | |
gezogen. Für ein Jahr arbeitet sie mit 25 Kollegen dort für das Projekt | |
Code for America. Viele waren vorher Programmierer, Webdesigner bei Google | |
oder Yahoo oder bei kleinen Start-ups. Zusammen wollen sie amerikanische | |
Städte lebenswerter machen und das Verhältnis von Bürgern und Regierenden | |
verbessern. Indem sie vor allem eines tun: Codezeilen schreiben. | |
Die Organisation Code for America gibt es seit zwei Jahren. Als Leitlinien | |
nennt die Gründerin Jennifer Pahlka: Open Government, Open Source, Open | |
Data. Die Regierungen, auch die kommunalen, sollen transparenter werden, | |
die Programme, die sie dafür verwenden, sollen frei verfügbar sein, und ein | |
Mittel, um die Arbeit transparenter zu machen, sind Daten aus dem Leben der | |
Stadt, die so aufbereitet sind, dass sich die Bewohner dafür interessieren. | |
Das Geld für das Informationsfreiheitsprojekt kommt von Spendern, 1,5 | |
Millionen Dollar von Google. | |
Jessica Lord trägt ein schlichtes Top mit gehäkelten Rändern, das ein wenig | |
nach bravem Schulmädchen aussieht, eine graue Cargo-Hose mit großen | |
Seitentaschen, wie sie Politaktivisten auf Demos anhaben, und lackierte | |
Fußnägel, die golden glitzern. In einem Café in Oakland hat sie ihr MacBook | |
aufgeklappt. Damit kann sie zeigen, was sie schon erreicht haben in Macon, | |
Georgia. Eine Stadt in ihrer Heimat, für die sie ein Jahr lang als Code for | |
America-Fellow arbeitet. | |
Sie sind erst einmal für fünf Wochen nach Macon gefahren, um mit den Leuten | |
im Rathaus zu sprechen. Lord und zwei Kollegen. Sie, die Stadtarchitektin | |
und Webdesignerin, und zwei Software-Entwickler. Einer war vorher in | |
Uganda, Uruguay und Haiti gewesen, für das Programm „Ein Laptop pro Kind“. | |
Nun redeten sie mit den Angestellten der Wasserwerke, der Verkehrsbetriebe, | |
der Finanzverwaltung, um herauszufinden, welchen Code Macon gebrauchen | |
konnte. Sie einigten sich auf mehrere Projekte: Sie würden den Busplan im | |
Netz verbessern, sodass man auf einer Karte sofort sieht, wann der nächste | |
Bus kommt. Einer von ihnen würde ein Beschwerdesystem, etwa für | |
Straßenschäden oder vermüllte Parks, etablieren. | |
Und Jessica Lord würde eine Seite schaffen, auf der die Bürgerinnen und | |
Bürger von Macon verfolgen könnten, was mit den 190 Millionen Dollar aus | |
der Steuererhöhung passieren würde, der sie kürzlich zugestimmt hatten. | |
## Ein Klick, und man sieht, wie viel Geld jeweils fließt | |
„Man kann mit schlichter Technik ganz viel erreichen“, sagt Lord. Sie | |
klickt auf die Webseite, die sie für die Finanzübersicht aufgesetzt hat. In | |
mintgrünen, waldgrünen oder froschgrünen Blöcken sind die Ausgaben | |
angeordnet. Abzahlung von Schulden, Wirtschaftsförderung, öffentliche | |
Sicherheit. Ein Klick, und man sieht, wie viel Geld jeweils fließt. Die | |
Übersicht soll die Akzeptanz für solche Steuererhöhungen fördern. | |
Lord und ihre Kollegen können manche Open-Source-Programme einfach | |
übernehmen. Im vergangenen Jahr hatten die Fellows in New Orleans, der | |
Stadt, die vom Hurrikan verwüstet worden war, eine Übersicht entwickelt, | |
die anzeigt, was mit leer stehenden, verfallenen Häusern gerade passiert. | |
Sie passen das für Macon an. | |
Es geht oft darum, mit einfachen Mitteln über das zu informieren, was in | |
der Stadt passiert. Sie wollen, dass so wieder Vertrauen entsteht zwischen | |
den Bürgern und den Bürgermeisterinnen, den Stadträten. In Honolulu auf | |
Hawaii haben sie dafür eine neue Seite für die Stadt programmiert. Sie | |
besteht vor allem aus einem Suchschlitz. Fast wie Google. | |
## Fragen? Einfach eintippen! | |
Wer eine Behördenwebseite ansteuert, hat eine Frage, das ist die Idee. Man | |
kann diese Fragen, wenn man in Honolulu wohnt, jetzt einfach stellen. In | |
einer samstäglichen Schreibsitzung, Writ-a-thon nannten sie das, in | |
Anlehnung an nächtelanges Programmieren, die Hackathons, haben sechzig | |
Stadtangestellte und Bürger Antworten auf die Fragen verfasst. Die Seite | |
ist jetzt online. | |
Jessica Lord macht mit ihren Freunden in Oakland, auf der anderen Seite der | |
Bucht von San Francisco, wo sie mittlerweile hingezogen ist, oft | |
Schreib-Rad-Essen, Codefoodbike nennen sie das. Sie fahren mit den Rädern | |
von Café zu Café, packen ihre Laptops aus, schreiben Programmcode, fahren | |
weiter. Über Twitter erzählen sie, wo sie gerade sind. | |
In Oakland hat sich eine weitere Ortsgruppe von Code for America gegründet. | |
Web-Entwickler, Sozialarbeiter, Studenten und Aktivisten trafen sich bei | |
Bier und Pizza, um die Stadt mit der hohen Mordrate und den düsteren | |
Vierteln umzuprogrammieren. Ohne Fellows, die Code for America bezahlt, | |
aber mit denselben Ideen. Als sie im Rathaus ein Datenportal vorstellten, | |
wurden die Stadtvertreter misstrauisch. Es war so billig. | |
Jessica Lord hat angefangen, sich mit Computern zu beschäftigen, als sie 12 | |
oder 13 war. Sie sei ein braves Kind gewesen, sagt sie. „Ich hatte wohl | |
schon immer eine nerdige Seite.“ Die Augenpausen, die ihre Mutter ihr nach | |
zwei PC-Stunden verordnet hat, hat sie oft ausgelassen. Dann gab es | |
Computerverbot. Mit 15 Jahren hat sie Webseiten gebaut, sie beherrschte die | |
Programmiersprache HTML, zurzeit lernt sie andere. | |
Ihr Bruder, dem sie Techniktipps gibt, nennt sie immer „meine | |
Computerfreundin“, wenn sie sich schreiben. Es sei schon ein Thema, die | |
Genderfrage im Tech-Universum, sagt Lord. Sie ist oft die einzige Frau in | |
einem Raum voller Hacker. Aber ob man dagegen nun etwas unternehmen muss? | |
Sie weiß es nicht so genau. | |
## Die Organisation kann auch die Start-up-Logik auf die Städte übertragen | |
Die Chance von Code for America scheint ihr wichtiger: Regierungen ändern | |
sich nicht gern. Sie verwenden alte, teure Software und tun den Leuten, die | |
sie vertreten, damit keinen Gefallen. Code for America, glaubt sie, kann | |
nicht nur den Service verbessern mit allen den kleinen und größeren | |
Projekten, die sich gerade über die Homepages der Rathäuser verbreiten. Die | |
Organisation kann auch die Start-up-Logik auf die Städte übertragen, sagt | |
Lord: Scheitere oft – aber versuch’s. Und lerne. Man muss ja nicht gleich | |
mit dem Haushalt anfangen. | |
Das Hauptquartier von Code for America liegt im Mission District von San | |
Francisco. Eine Gegend, in der die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass man | |
von Betrunkenen angebrüllt oder von Obdachlosen um ein paar Cent gebeten | |
wird. Eine Gegend auch, in die viele Start-ups ziehen, wegen der | |
Steuervergünstigungen, auch Twitter sitzt da jetzt. Code for America hat | |
eine Art Loft gemietet. Whiteboards, Zettel mit Ideen an den Wänden, die | |
Schreibtischstühle haben Kopfstützen. Ein Büro für 26 Fellows und 15 | |
Hauptamtliche. | |
An diesem Abend ist der Raum voll. Der Science-Fiction-Autor Daniel Suarez | |
ist gekommen, um in einem Vortrag zu verdeutlichen, wie groß die Idee von | |
Code for America ist. Suarez’ Bücher sind Bestseller. „Die | |
Open-Source-Idee“, sagt er, „kann uns helfen, die Gesellschaft zügig | |
umzugestalten.“ Neben dem bestehenden Regierungssystem könne ein anderes, | |
codebasiertes, demokratisches entstehen. Die Bürger wissen dann genauer, | |
worüber geredet und entschieden wird, nicht nur, wofür die Stadt Macon in | |
Georgia ihr Geld ausgibt, und sie können mitgestalten. Jennifer Pahlka ist | |
da, die Gründerin von Code for America, und auch Tim O’Reilly, den manche | |
den Vater des Web 2.0 nennen, ein Open-Source-Veteran und Berater von Code | |
for America. | |
Algorithmen verändern sich. Gesetze muss man ständig neu schreiben. Wie | |
geht das zusammen, fragt O’Reilly. „Wo fangen wir an?“ – „Ihr habt do… | |
schon angefangen“, sagt Suarez. Zurzeit werden neue Fellows für 2013 | |
ausgewählt. Und Städte. Auch die müssen sich bewerben. | |
Jessica Lord wird sich einen neuen Job suchen, im November endet ihr Jahr | |
bei Code for America offiziell. Aber sie wird nicht aufhören, an den | |
Projekten zu arbeiten. „Unsere Städte sind uns wichtig“, sagt sie. Das mag | |
pathetisch klingen, sie weiß es. Ist aber einfach so, sagt sie. | |
3 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Johannes Gernert | |
## TAGS | |
Energiewende | |
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