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# taz.de -- Leben ohne Urheberrechtsprodukte: Der schwere Weg zum guten Bier
> Der 28-Jährige Sam Muirhead will ein Jahr lang „open source“ leben, also
> ein Jahr ohne urheberrechtlich geschützte Produkte. Ein Besuch.
Bild: Dieses Bier ist ohne Schutzrecht nicht zu haben. Schade!
Wie baue ich ein Liegerad? Aus wie vielen Stoffteilen besteht eine Jeans?
Woraus macht man Zahnpasta? Was ist die perfekte Form für eine Teetasse?
Sam Muirhead sitzt in seinem Wohnzimmer nicht weit vom Kottbusser Tor und
geht seiner ungewöhnlichen Arbeit nach.
Eigentlich ist der 28-jährige Neuseeländer Filmemacher. Vor zwei Jahren
besuchte er Berlin und blieb hier hängen. Für die Miete führte er Touristen
durch die Stadt und erzählte von Friedrich dem Großen, Hitler und Stalin.
Jetzt hat er diesen Job aufgegeben, um sich ganz seiner neuen,
selbstgestellten Aufgabe zu widmen.
Seit Anfang August versucht Muirhead, open source zu leben. Der Begriff
stammt aus der Softwareentwicklung und beschreibt Programme, deren
Source-Code offen ist, die von den Benutzern selbst modifiziert und
weiterentwickelt werden können. So entstanden etwa das Betriebssystem
Linux, der Internetbrowser Firefox oder die Onlineenzyklopädie Wikipedia.
Doch die Grundidee von Transparenz und Offenheit, den Benutzer das Produkt
verstehen und weiterentwickeln zu lassen, muss nicht auf die Computerwelt
beschränkt werden. Fast alle Lebensbereiche könnten von der
Open-Source-Idee profitieren, meint Muirhead und entschied sich zu seinem
Experiment. Ein Jahr lang open source leben, das bedeutet: ein Jahr ohne
urheberrechtlich geschützte Produkte, ein Jahr lang ohne Patente und mit
jeder Menge Herausforderungen, um an ganz gewöhnliche Konsumgüter zu
kommen.
## Mehr als Do-it-yourself
Muirheads Kühlschrank ist voll von selbstgemachten Marmeladen, Schnaps und
Aufstrichen. Selbst Senf und Zahnpasta hat er eigenhändig hergestellt. Doch
der Open-Source-Gedanke geht über einen simplen Do-it-yourself-Lebensstil
hinaus.
Muirhead erklärt es so: „Do it yourself basiert auf eigener Erfahrung und
Wissen. Open Source basiert auf Erfahrung und Wissen, das geteilt wird.
Wenn ich zum Beispiel neue Teetassen brauche, aber nicht einfach ins
Geschäft gehen will, kann ich sie natürlich selbst töpfern. Dazu müsste ich
aber erst töpfern lernen, und das braucht viel Zeit. Andererseits kann ich
einfach den Entwurf für eine Teetasse aus dem Internet herunterladen, sie
nach meinen Wünschen ändern und mir die Tasse dann ausdrucken.“
Das mit dem Drucken meint Muirhead ganz wörtlich. Sogenannte 3-D-Drucker
erstellen Objekte, indem sie Schicht für Schicht Plastik, Keramik oder
anderes Material übereinanderlegen. 3-D-Drucker gibt es schon seit gut 30
Jahren, lange waren sie aber so teuer, dass sie nur in Massenanfertigungen
Verwendung fanden.
Das hat sich aber in den letzten Jahren drastisch geändert. Ein Beispiel
dafür ist das Reprap-Projekt, das 2005 an der Universität im englischen
Bath begonnen wurde. Das Besondere an den Reprap-Druckern ist, dass sie
ihre eigenen Teile drucken können. Wer einen Reprap-Drucker besitzt, kann
also Freunden einfach einen weiteren ausdrucken. Ein großer Schritt weg von
Maschinen, die für einen Privatverbraucher unbezahlbar sind.
Open Source, wird hier deutlich, basiert auf technischen Entwicklungen der
letzen Jahrzehnte. Ermöglicht wurde das durch die unermüdliche Arbeit einer
begeisterten Open-Source-Community. Auch Muirhead will seinen Beitrag
leisten für die Entwicklung der Open-Source-Idee. „Aber ich bin Filmemacher
und nicht Designer, Programmierer oder Ingenieur. Mein Beitrag kann sein,
die Idee bekannter zu machen, neue Lösungen auszudenken und sie zu
dokumentieren.“
So entstand seine Idee, ein Jahr lang open source zu leben. Sich an seinen
eigenen Bedürfnissen orientierend, experimentiert Muirhead damit, wie es
funktionieren kann, möglichst alle Bereiche des täglichen Lebens open
source zu gestalten.
## Rezepte für Lebensmittel sind fast open source
Im Moment geht es um Bier. Muirhead liebt Bier. Um es in Zukunft noch
trinken zu dürfen, sitzt er an seinem Schreibtisch und tippt eine E-Mail an
die Biermarke Premiumbier. „Natürlich werde ich mein eigenes Bier brauen“,
schreibt er, „aber ich will auch gutes Bier trinken.“ Rezepte für
Lebensmittel sind fast open source, denn auf sie darf kein Urheberrecht
beansprucht werden.
Hersteller halten Rezepte und Herstellungsmethoden für gewöhnlich aber
geheim. Ein Open-Source-Bier müsste also die Pläne zur Herstellung und
Rezepte veröffentlichen und auf dem Etikett darauf hinweisen. So könnte
jeder Biertrinker versuchen, es nachzubrauen. Nur was hätte der Bierbrauer
davon?
Zur Erklärung greift Muirhead nach einem Beispiel aus der Computerwelt –
dem Arduino Mikrocontroller. Das Stück Computertechnik wurde open source
entwickelt – jeder darf Schaltbilder, Pläne und die dazugehörige Software
benutzen, den Controller selbst herstellen und weiterentwickeln.
Davon profitieren Künstler, Designer und Bastler, die den Chip verwenden.
Davon profitieren aber auch die Entwickler, denn die Beliebtheit der
Technologie sorgt für rege Nachfrage bei dem Originalprodukt. Auf ähnliche
Weise könnte ein Open-Source-Bier Interesse wecken und für Absatz sorgen,
meint Muirhead.
## Das Hosen-Problem
Muirhead gähnt und klappt den Laptop zu. „Jetzt muss ich mich nur noch
darum kümmern, wie ich mir eine neue Hose zulegen kann“, murmelt er. Die
Hose, die Muirhead trägt, sieht noch gut aus. Doch das Projekt, mit dem er
an Open-Source-Kleider kommen will, wird einige Zeit benötigen.
Mit einer befreundeten Schneiderin und einem Programmierer will Muirhead
ein Programm entwickeln, das bei der Herstellung von Kleidung hilft: „Man
gibt seine Körpermaße ein und das Programm spuckt die genauen Größen der
einzelnen Teile aus, die man aus dem Stoff schneiden muss. Dann muss man
nur noch das Zusammennähen lernen.“ Selbstverständlich wird das Programm
online stehen und die freie Verwendung und Weiterentwicklung erlaubt sein.
Dienstagnachmittag im Betahaus in der Prinzessinnenstraße in Kreuzberg. Die
Open Design City ist ein Raum gefüllt mit großen Tischen, Kabeln, die von
der Decke hängen, Werkzeugen und Maschinen. In kleinen Gruppen sitzen
Menschen zusammen, diskutieren oder arbeiten an den Werkbänken. Muirhead
steht an einem großen Tisch und unterhält sich angeregt mit seinen
Kollegen.
## Auch ein 3-D-Drucker kommt zum Einsatz
Gemeinsam entwickeln sie Filmausrüstung zum Selberbauen. Plexiglasplatten,
Schrauben und Fahrradlenker werden verwendet, aber auch ein 3-D-Drucker
kommt zum Einsatz. Weil er seine Projekte filmisch dokumentieren möchte,
muss Muirhead auch seine Filmausrüstung auf Open Source umstellen. Sein
Rechner läuft bereits mit Linux und auch ein Open-Source-Schnittprogramm
hat er gefunden.
Jetzt ist die Kameraausrüstung dran. „Das Tolle dabei ist nicht nur, dass
die selbstgebauten Teile viel billiger sind als die Stative, Rigs und
Kamerateile aus dem Geschäft“, erklärt Muirhead. „Ich kann sie mir auch
genau so bauen, wie ich sie für mich brauche, und muss keine Kompromisse
eingehen.“
Open Source kann viel mehr sein als eine Spinnerei von Computernerds oder
die Theorie hinter einem Do-it-yourself-Lebensstil. Was auf den ersten
Blick lediglich wie eine Art individuelles und befriedigenderes Konsumieren
erscheinen mag, hat eine soziale und politische Dimension.
Denn die Open-Source-Philosophie, wenn sie einmal so ausgiebig gelebt
werden kann, wie Muirhead sich das vorstellt, hinterfragt die Trennung
zwischen Herstellern und Verbrauchern zwischen Anbietern und Nutzern. Sie
hat das Potenzial, aus passiven Konsumenten aktive Menschen zu machen, die
ihre eigenen Ideen umsetzen wollen und dafür Freiräume fordern.
Inzwischen hat sich auch der Bierhersteller gemeldet. Uwe Lübbermann,
Gründer und Inhaber von Premiumbier, ist angetan von Muirheads Idee und
kann sich gut vorstellen, ein Open-Source-Bier zu brauen. Er fügt hinzu,
dass die Open-Source-Idee von Transparenz und Beteiligung viel weiter gehen
kann als nur bis zur Herstellung eines Produktes. „Der Gedanke kann tief in
die Firma selbst hineingetragen werden. Transparenz muss es nicht nur bei
dem Produkt selbst geben, sondern in allen Bereichen des Vertriebs.“
Das genau ist der Ansatz des Unternehmens Premium. Der kleine Vertreiber
von Bier und Cola versucht, größtmögliche Transparenz in den Geschäften zu
gewähren und Entscheidungen im Kollektiv zu fällen. Muirhead, so scheint
es, hat einen weiteren neuen Verbündeten gefunden. Er wird noch viele
weitere brauchen, um seinem Ziel, open source zu leben, nahe zu kommen.
Sam Muirhead dokumentiert sein [1][Open-Source-Projekt] mit Blogeinträgen
und kurzen Filmen.
6 Sep 2012
## LINKS
[1] http://www.yearofopensource.net
## AUTOREN
Ben Mergelsberg
## TAGS
Mozilla Foundation
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