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# taz.de -- Wahl in Venezuela: Morgenröte im Tropen-Sozialismus
> Präsident Hugo Chávez gibt den starken, unverzichtbaren Sozialisten. Sein
> bürgerlicher Herausforderer Henrique Capriles hat gute Chancen.
Bild: Der Wahlkampf ist eine schweißtreibende Angelegeneheit: Venezuelas Präs…
CARACAS taz | „Mein Sohn ist Chavista.“ Elisa Rosales sagt es, als hätte
sie das Grundübel ihres Sohnes preisgegeben. Seit Ramón mit einem
staatlichen Stipendium zur Abendschule geht, ist der Familienfriede dahin.
Denn seither ist er Feuer und Flamme für Revolution, Sozialismus und Hugo
Chávez. Und Mutter und Sohn streiten sich.
Für Elisa Rosales ist Venezuelas Staatspräsident Hugo Cháves ein rotes
Tuch. Kurz vor der Pensionierung wurde ihre Stelle an der Universität
gestrichen, das Geld umgeleitet und zum selben Zeitpunkt von Chávez die
Universidad Bolivariana de Venezuela eröffnet. Seither muss sich die
geschiedene Frau mit Honorartätigkeiten durchschlagen.
Mit dem Stipendium hofft Ramón den Abschluss nachzuholen und später an der
bolivarianischen Uni studieren zu können. Stipendium und Uni sind Teil
eines der vielen staatlichen Sozialprogramme. Doch der Streit beschränkt
sich nicht auf Mutter und Sohn. Aus Geschwistern, Onkeln und Cousinen sind
Chavistas und Anti-Chavistas geworden. Einige von Ramóns Freunden melden
sich nicht mehr.
## Vierstündige Reden auf allen Kanälen
So tief ist die gegenseitige Abneigung, dass sich die Opposition aus mehr
als 20 Parteien erstmals seit Chávez’ Amtsübernahme 1999 zusammenraufte und
sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigte: Henrique Capriles Radonski,
40 Jahre alt, körperlich fit und politisch agil. Chávez hingegen ist nach
eigenen Angaben von seiner Krebserkrankung genesen und kämpft vor allem
verbal.
Mindestens vier Stunden in der Woche hält er ausufernde Reden, die die
Rundfunksender gleichzeitig und in voller Länge übertragen müssten, klagte
gestern die Organisation Reporter ohne Grenzen. Eine freie
Berichterstattung werde in Venezuela immer schwieriger, die Gewalt gegen
Journalisten habe im Wahljahr zugenommen. Chávez stellt sich am Sonntag zum
dritten Mal in Folge den knapp 18,8 Millionen Stimmberechtigten zur Wahl.
Dass sich noch vier weitere KandidatInnen präsentieren, wird im Land kaum
wahrgenommen.
„Wenn nur endlich diese ewigen Feindseligkeiten, Beleidigungen, Drohungen
und das Angstmachen aufhören würden“, sagt Elisa Rosales. Die zwei
unversöhnlichen Lager sind von ihren Sieg so tief überzeugt, dass Rosales
befürchtet, nach der Schließung der Wahllokale werde sich Freude und Frust
in einem heftigen Gewaltausbruch entladen. Mit Ramón hat sie vereinbart,
dass sie beide um 18 Uhr zu Hause sind.
## Chávez oder dünne Reismilch
Präsident Chávez versucht trotz Erkrankung im Wahlkampf zu rocken. Auf
einer Bühne beginnt er zu singen und die Menge auf der übervollen Allee
setzt ein. Nur ein kurzer Moment, und schon dirigiert er sie. Dann:
„Erinnert ihr euch noch an die Zeit, als ihr Hunger hattet, als ihr euren
Kindern nur dünne Reismilch geben konntet?“ Das kommt wieder, wenn ihr
nicht Hugo Chávez wählt, warnt er. Dann wird der Sozialismus durch die
neoliberale Bourgeoisie abgeschafft.
Sein Herausforderer Henrique Capriles Radonski ist Anwalt und kommt aus
einer jüdischen Familie, die in den 1930er-Jahren aus Polen geflohen war,
sich in Venezuela niederließ und zum Christentum übertrat. Heute gehört ihr
eine große Kinokette, außerdem ist sie an mehreren Banken beteiligt und
mischt in der Baubranche mit.
Henrique Capriles hatte sich schon früh und erfolgreich in die Politik
eingemischt. Zweimal gewann er die Bürgermeisterschaftswahl in Baruta,
einem Bezirk von Caracas. 2008 setzte er sich bei der Gouverneurswahl in
der Provinz Miranda gegen Amtsinhaber Diosdado Cabello durch, ein
chavistisches Schwergewicht.
Nachdem Capriles anfangs keinen Satz stolperfrei reden konnte und die Leute
mit dem Ablesen vom Blatt langweilte, hat er rhetorisch kräftig zugelegt.
Im Wahlkampf setzt Capriles auf Themen: Sicherheit, Arbeitsplätze,
Infrastruktur und die Verbesserung der Sozialprogramme von Chávez.
## Nicht gegen die Unterschicht regieren
Politisch stehen hinter Capriles vor allem die zwei aus alten sozial- und
christdemokratischen Parteien hervorgegangenen neuen Parteien Nuevo Tiempo
und Primero Justica. Doch solche Polit-Etiketten gelten in Venezuela wenig.
Der Herausforderer gehört zu jener neuen Politikergeneration, die begriffen
hat, dass in Venezuela gegen die Unterschicht und ohne Sozialprogramme
nicht mehr regiert werden kann. Bei seiner rechten Klientel ist er deshalb
nicht unumstritten. „Viele sehen in Capriles nicht den besseren Kandidaten,
sondern schlicht den Einzigen, den sie haben und der Chávez schlagen kann“,
sagt der Journalist Oscar Torres.
Nur mit den Stimmen aus der Ober- und Mittelschicht wird Capriles nicht
gewinnen. Dazu braucht er auch Stimmen wie die von Maria Torrealba, die
extra aus dem Bundestaat Carabobo zu Capriles Wahlkampfabschluss nach
Caracas gekommen ist. Erschöpft lehnt die kleine korpulente Friseurin an
einem parkenden Auto. Doch kaum kommt die Sprache auf Chávez, da wird die
resolute 49-Jährige kämpferisch. „Chávez war immer ein Lügner; nur wen er
bezahlt, der wählt ihn auch.“ Viele frühere Anhänger von Chávez sind heute
enttäuscht, sagt sie. „Bei uns in Carabobo wird Capriles mit sieben Prozent
Vorsprung gewinnen.“
Ramón steht derweil im roten T-Shirt und mit rotem Basecap auf einer
Verkehrsinsel. Schon seit Wochen verteilt er mit einer Gruppe von
AktivistInnen Wahlwerbung für Hugo Chavéz. „Man muss auch zurückgeben, wenn
man etwas bekommt.“ Nein, Angst um sein Stipendium hat er keine. Dass viele
nicht freiwillig zu den Aktionen und Wahlveranstaltungen der Chavistas
gehen, ist kein Geheimnis. Die Parteifunktionäre vor Ort wissen, wer welche
staatlichen Zuwendungen erhält. Staatliche Angestellte tun gut daran, beim
Auftritt des Präsidenten zu erscheinen.
5 Oct 2012
## AUTOREN
Jürgen Vogt
## TAGS
Recherchefonds Ausland
Venezuela
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