Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- PKK-Kämpfer und türkische Kampfjets: Freudenfeuer und andere Sch�…
> Jogger drehen ihre Runden, Männer schmauchen Wasserpfeife. Doch die Ruhe
> in Diyarbakir ist fragil, denn im Umland fließt Blut.
Bild: Straßensperre nach einem Anschlag der PKK.
DIYARBAKIR taz | Es ist 17 Uhr, Rush Hour in Diyarbakir. Der Verkehr quält
sich über Alleen, Baustellen versperren den Weg. Langsam füllt sich der
Park im Neubauviertel Diclekent mit Leuten, die sich vom Tag erholen
wollen. Es wird gejoggt, von zwei neu angelegten Tenniscourts tönt das
Floppen der Bälle.
Die Stimmung unterscheidet sich nicht vom Feierabend in einer Großstadt im
Westen des Landes und doch gibt es einen gewaltigen Unterschied. Diyarbakir
liegt im Krisenzentrum des Landes. Soeben flimmert über den Fernseher im
idyllischen Teegarten im Diclekentpark die Nachricht, dass wieder neun
Polizisten bei einem Attentat in der Nähe von Bingöl ums Leben gekommen
sind.
Auf derselben Straße werden zwei Tage später zehn unbewaffnete Soldaten in
Zivil ermordet. Insgesamt gab es in den letzten zwei Monaten mehrere
hundert Tote, die Armee setzt gegen die Truppen der kurdischen PKK sogar
Kampfflugzeuge ein.
Bingöl liegt wenige Kilometer nördlich von Diyarbakir, doch angesichts der
Männer im Teegarten, die Wasserpfeife schmauchen, erscheinen diese
Nachrichten von einem anderen Stern.
## Ein Alltag ohne Krieg
„Die Leute haben sich daran gewöhnt“, sagt Sertac Bucak, Mitglied eines
unabhängigen Thinktanks, der sich mit Forschungen zur kurdischen
Gesellschaft beschäftigt. „Und sie wollen sich in ihrem Alltag nicht mehr
davon bestimmen lassen.“
Polizei und Militär unterstützen diese Haltung auffällig. Sie halten sich
zurück und vermitteln den Eindruck, als wäre die Situation normal. Die
sichtbare Militärpräsenz ist, anders als früher, minimal. Lediglich die
Kampfflugzeuge, die vom Flugplatz starten, erinnern daran, dass in der Nähe
gekämpft wird.
Sertac Bucak ist bereits im Pensionsalter. Nachdem er infolge des
Militärputsches von 1980 das Land verlassen musste, hat er Jahrzehnte in
Deutschland gelebt. Seit einigen Jahren ist er zurück und freut sich, wie
sich die Stadt entwickelt hat.
## Diyarbakir, eine 1,5 Millionen-Stadt
Aus der heruntergekommenen Siedlung am Tigris ist eine moderne Metropole
geworden. Die wichtigste kurdische Stadt der Türkei ist gewachsen. Aus der
Stadt mit 200.000 Menschen, die vor zwanzig Jahren mehr schlecht als recht
hier hausten, ist eine 1,5-Millionen-Stadt geworden.
Die von einer Stadtmauer aus schwarzem Basalt umgebene Altstadt, früher das
Zentrum, ist zu einem pittoresken Anhängsel der Neustadt geworden. Wo sich
vor ein paar Jahren noch die Slums der Kriegsflüchtlinge an die Stadtmauer
schmiegten, wurden Grünanlagen und Spielplätze angelegt.
Der Strukturwandel ist sicher von außen unterstützt worden, hat aber vor
allem eine Ursache: Es hat sich eine kurdische Mittelschicht entwickelt,
die für diese Gegend neu ist. Bis vor wenigen Jahren war die kurdische
Gesellschaft agrarisch-feudal organisiert. Großgrundbesitzer herrschten
über Bauern, Clans bestimmten das soziale Gefüge.
## 30 Jahre Krieg
Der dreißig Jahre währende Krieg der PKK-Guerilla gegen die Armee hat viele
dieser Strukturen zerstört. Zehntausende Bauern und ihre Familien wurden
vom Militär aus ihren Dörfern vertrieben, andere verließen ihre Häuser,
weil sie in die Schusslinie gerieten. Die Menschen flüchteten in die
Städte, nach Diyarbakir, aber auch in den Westen der Türkei oder ins
Ausland.
Auf einer Tour durch die Stadt zeigt Sertac Bucak auf „Residenzen“,
Luxuswohnanlagen, die man nun auch in Diyarbakir verkaufen kann. „Viele
Kurden aus Istanbul kaufen sich hier eine Wohnung“, glaubt Sertac.
Auch die Sehenswürdigkeiten glänzen. Eine römische Brücke über den Tigris,
vor Jahren vom Einsturz bedroht, ist restauriert. Wo früher Stacheldraht
den Weg versperrte, lassen sich jetzt junge Paare fotografieren.
## Die Universität am Tigris
Auf der anderen Seite des Tigris liegt die Universität. Mehr als 20.000
Studenten werden hier in nahezu allen Fächern ausgebildet, demnächst soll
eine Fakultät für kurdische Studien eröffnet werden.
Eine der wichtigsten Neuerungen ist eine brauchbare Kanalisation und
Kläranlage. Beim Spaziergang durch die Altstadt deutet Sertac auf die
Rinnen. „Vor ein paar Jahren flossen hier noch die Fäkalien, das ist jetzt
endlich vorbei.“
Möglich wurde das durch einen De-facto-Waffenstillstand ab dem Jahr 2000
und einigen Friedensphasen, die alle von der Hoffnung auf eine politische
Lösung erfüllt waren, wie sie Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan
versprochen hatte.
## Es wird wieder geschossen
Doch seit gut zwei Jahren wird wieder geschossen. In den letzten Monaten
hat die PKK ihre Angriffe intensiviert. Mit einer Offensive versucht sie im
Moment, entlang der irakischen und iranischen Grenze „befreite Gebiete“ zu
schaffen. Die Armee hat zusätzliche Kräfte dorthin verlegt.
Dieser neu aufgeflammte Krieg trifft auf eine Bevölkerung in den kurdischen
Städten, die zwar in weiten Teilen kurdisch-nationalistisch denkt, die
aber, anders als früher, etwas zu verlieren hat. Das Symbol dieser
Mittelschicht ist Osman Baydemir, Oberbürgermeister von Diyarbakir. Ihm
geht es nicht nur um mehr oder weniger abstrakte Autonomieforderungen, er
will die Lebensbedingungen verbessern.
Der frühere Menschenrechtsanwalt Baydemir, noch genauso zuvorkommend wie zu
seiner Zeit als Anwalt, empfängt in seinen Amtsräumen. Das Rathaus ist eine
Hochburg der kurdischen Partei BDP. Überall hängen Schilder in Kurdisch.
Trotz der angespannten Lage wirkt Baydemir gelassen.
## Kurdisch darf nicht Amtssprache sein
Obwohl als Amtssprache nach wie vor verboten, bestreitet Baydemir das
Gespräch auf Kurdisch. Es ist ihm wichtig, in seiner Muttersprache zu
reden. Baydemir gehört der BDP an und ist fast genauso lange hier
Oberbürgermeister wie Erdogan Ministerpräsident ist. In der Kurdenfrage
sind sie deshalb bereits einen langen Weg mit- und gegeneinander gegangen.
„Die ersten Jahre meiner Amtszeit ging es in den kurdischen Gebieten
ständig bergauf“, sagt Baydemir. „Die Waffen schwiegen und die Regierung
von Tayyip Erdogan hat sich bemüht, die Kurden für sich zu gewinnen und
viel in die Infrastruktur in Diyarbakir und anderen kurdischen Städten
investiert. Dann kam eine Phase der Stagnation und seit zwei Jahren geht
die Kurve wieder steil nach unten.“
Was Baydemir nicht sagt, erläutert Vahab Coskun, ein Politologe der
Universität Diyarbakir. Es ist nicht nur die Regierung, die für die
Zuspitzung verantwortlich ist. Zwar lässt Erdogan seit mehr als einem Jahr
Funktionäre der BDP verhaften, denen vorgeworfen wird, sie würden
versuchen, in den kurdischen Regionen eine staatliche Parallelstruktur im
Auftrag der PKK zu errichten, doch zuvor hatte die BDP ein Friedensangebot
Erdogans spektakulär scheitern lassen.
## Triumphzug der Kämpfer
PKK-Kämpfer, denen die Regierung Straffreiheit zugesichert hatte, wenn sie
ihre Waffen niederlegen, wurden von der BDP im Triumphzug durchs Land
gefahren, als hätten sie den Krieg gewonnen. Angesichts der Empörung in der
türkischen Mehrheitsgesellschaft musste Erdogan seine Initiative auf Eis
legen.
Trotzdem ließ er hinter den Kulissen weiter verhandeln. Emissäre der
Regierung trafen sich in Oslo mit Vertretern der PKK, ja selbst der
inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan wurde mit einbezogen.
Doch im Sommer 2011 war Schluss. In einer groß angelegten Aktion griff die
PKK einen Militärkonvoi an und tötete dreizehn Soldaten. Seitdem werden die
Kämpfe immer brutaler.
## Misstrauen auf allen Seiten
Für die Öffentlichkeit ist bis heute unklar, warum die Verhandlungen
gescheitert sind. Die Oppositionspartei CHP präsentierte in Ankara kürzlich
ein angebliches Protokoll der Verhandlungen, das zeigen sollte, dass es der
Regierung nur darum gegangen war, vor den Wahlen Ruhe zu haben, die im Juni
2011 stattfanden. Vahab Coskun führt das Scheitern dagegen auf das
wechselseitige Misstrauen zurück.
„Die PKK behauptet, die Regierung hätte ihre Zusagen nicht eingehalten, und
die Regierung verweist darauf, dass ein Teil der PKK mit den Ergebnissen
nicht einverstanden war und von den Verhandlungsführern nicht kontrolliert
werden konnte.“
Die Regierung ist außerdem überzeugt, dass die Offensive der PKK durch das
Assad-Regime in Syrien unterstützt wird, als Rache dafür, dass die Türkei
die syrische Opposition unterstützt.
## Kurdische Mittelschicht ist kriegsmüde
Doch selbst wenn das stimmen sollte, ändert es nichts daran, dass die
kurdische Frage nicht durch Gewalt gelöst werden kann. Die neue kurdische
Mittelschicht ist kriegsmüde. Sie will von den immer wieder gleichen
Kämpfen zwischen PKK und Armee nichts mehr hören.
„Darauf muss auch die BDP und indirekt damit auch die PKK Rücksicht
nehmen“, sagt Vahab Coskun. Eine Lösung ist nur durch Verhandlungen
möglich, davon sind Sertac Bucak und Vahab Coskun, aber auch der
Oberbürgermeister von Diyarbakir überzeugt. Die Lösung liegt längst auf dem
Tisch, meint Osman Baydemir. „Am Ende wird eine regionale Autonomie
innerhalb des türkischen Staates stehen.“ Das müsse jetzt nur noch
politisch durchgesetzt werden.
In der Nacht knallt es heftig im Viertel Diclekent. Lichter werden
gelöscht, Leute stürzen hinaus. Schüsse sind zu hören. Dann steigen
Feuerwerksraketen auf. „Es ist eine Hochzeit“, sagt der Nachbar lachend,
„die Schüsse waren nur ein Freudenfeuer.“
12 Oct 2012
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Kurden
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Reiseland Türkei
Schwerpunkt Syrien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hungerstreikende Kurden: Seit 40 Tagen ohne Nahrung
Rund 700 Gefangene protestieren gegen die Isolation von PKK-Chef Abdullah
Öcalan. Nun könnten sie irreversible gesundheitliche Schäden erleiden.
Türkisch-syrischer Grenzkonflikt: Solidarität ja – aber nur keinen Krieg
Europäer, USA und Nato stellen sich offiziell hinter Ankara, doch die
Furcht vor einer Eskalation des Streits zwischen der Türkei und Syrien
wächst.
Türkei sperrt Luftraum für syrische Jets: Tod aus dem Hubschrauber
Menschenrechtler werfen dem Assad-Regime erneut vor, Streubomben
einzusetzen. Landesweit halten die heftigen Kämpfe zwischen Assads Truppen
und den Rebellen an.
Kommentar Syrien: Und keiner hat einen Plan
Die Tatenlosigkeit des Auslands gegenüber Syrien verschlimmert die Lage nur
noch. Selbst die Türkei arbeitet lediglich an der Eindämmung des Konflikts.
Kurden im Syrienkonflikt: Warum die Kurden zögern
Der türkische Umgang mit der Minderheit im eigenen Land lässt die syrischen
Kurden davor zurückschrecken, sich hinter die Rebellen zu stellen.
Kommentar Syrien-Türkei: Die Türken wollen keinen Krieg
Das türkische Parlament genehmigt Militäreinsätze im syrischen Grenzgebiet.
Das Ziel ist nicht das Assad-Regime, sondern die kurdische Bevölkerung.
Syrien-Krieg und Türkei-Touristen: „Wir haben gut verdient“
Die türkische Grenzregion Hatay hat dank des Handels mit Syrien in den
letzten Jahren einen Boom erlebt. Jetzt liegt die Wirtschaft am Boden.
Kämpfe im türkischen Südosten: Offensive gegen kurdische Rebellen
In den letzten Tagen sind im Südosten der Türkei fast 80 kurdische Kämpfer
getötet worden. Der Bürgerkrieg in Syrien heizt den Konflikt noch an.
Konflikt in der Osttürkei: 30 Tote bei Angriff der PKK
Bei Angriffen der kurdischen PKK im Osten der Türkei sterben 30 Menschen.
Der Krieg im benachbarten Syrien bringt die Regierung in Ankara in
Bedrängnis.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.