| # taz.de -- Intendantenwechsel am Theater Köln: Alles ist ein Spiel | |
| > Kölns Theaterintendantin Karin Beier startet in ihre letzte Spielzeit vor | |
| > dem Wechsel nach Hamburg. Die Intendanz wird dann Stefan Bachmann | |
| > übernehmen. | |
| Bild: Letzte Spielzeit: Theaterintendantin Karin Beier wechselt von Köln nach … | |
| Abschiedsrunde für Karin Beier als Intendantin in Köln. Die Direktorin, mit | |
| einem Bein schon nach Hamburg umgezogen, wo sie in einem Jahr die Intendanz | |
| des Deutschen Schauspielhauses antritt, absolviert die letzte Kölner | |
| Spielzeit im Interim einer angemieteten Eventhalle am Innenstadtrand. 2015, | |
| so der Plan, soll das sanierte Schauspielhaus am Offenbachplatz | |
| wiedereröffnet werden. Davor kommt allerdings Stefan Bachmann und übernimmt | |
| das von Beier so erfolgreich wiederbelebte Kölner Theater. | |
| Gut also, wenn angesichts dieser Bewegungen erst mal die Routiniers das | |
| Heft in die Hand nehmen. Regisseurin Karin Henkel hat sich für die erste | |
| große Premiere in der neuen Zwischenspielstätte Expo XXI Gerhart Hauptmanns | |
| „Die Ratten“ vorgenommen. Warum, bleibt leider bis zum Schluss unklar. | |
| Anders als Henkel in ihrer Inszenierung geht es Hauptmann um die | |
| Darstellung sozialer Realitäten im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu. | |
| Das ist die eine Seite. Auf ihr verhandelt er – durchgehend in Berliner | |
| Dialekt – die Tragödie der Putzfrau John (gespenstisch gut: Lina Beckmann). | |
| Auf der anderen Seite geht es – und das ist die Besonderheit des Stücks, | |
| aus der Karin Henkel mit großem Genuss Kapital zieht – ums Theater. Hier | |
| dreht sich alles um den verheirateten Familienvater und Exintendanten | |
| Hassenreuter (Yorck Dippe), und damit ums (Kultur-)Bürgertum. Auf dem | |
| Dachboden des Mietshauses, in dem auch die John lebt, hat Hassenreuter | |
| seinen Fundus eingerichtet, gibt Schauspielunterricht – und trifft seine | |
| Affären. So viel zum Stand der bürgerlichen Moral bei Hauptmann. | |
| Aus der Welt Hassenreuters bezieht Henkel erzählerische Verve, etwas, das | |
| ihre Arbeiten häufig ausgezeichnet hat. Und sie pumpt viel spielerische und | |
| musikalische Energie (Live-Gitarre: Michael Weber) in die enge Verzahnung | |
| dieser Welt mit der proletarischen Tragödie der Frau John. Hassenreuter | |
| bringt das Theater immer wieder ins Spiel. Es wird zur großen Metapher | |
| dieser Inszenierung. Henkel macht sich aus den Ästhetikdebatten zwischen | |
| dem Theaternarr und Klassizisten und seinem trottelhaften, aber | |
| modernistisch denkenden Schüler Spitta (Jan-Peter Kampwirth) einen großen | |
| Spaß. Dem Publikum auch. Die meisten Figuren werden mit Doppelbesetzungen | |
| gespielt, auch das ein Zeichen für die von Henkel gewählte | |
| Alles-ist-Spiel-Metapher. | |
| ## Olle Berliner Geschichte | |
| Es bleibt allerdings unklar, wohin genau die zielt. Vielleicht war das | |
| Theaterbild für die Regie auch der einzige Ausweg aus Hauptmanns Geschichte | |
| über das Berliner Elend um 1900, die den Betrug um ein Kind und den damit | |
| verbundenen Mord detailliert verhandelt. Die Darstellung dessen bereitet | |
| Karin Henkel Probleme. | |
| Nur die lustvoll ausgespielte Theatermetapher rettet einen da vor | |
| Langeweile: Eine olle Berliner Geschichte ist, ungeachtet der | |
| literarhistorischen Bedeutung von Hauptmanns sozialem Realismus, eben nicht | |
| mehr das, was einen vom Hocker reißt. So bleibt die Inszenierung | |
| unentschlossen darüber, mit wem sie mehr sympathisiert: mit dem spezifisch | |
| weiblichen Leid der Mutter John oder mit dem Willen zur theatralen | |
| Unterhaltung, dem alles Spiel, Zitat und Requisite ist. | |
| Wie aus einem Guss dagegen Katie Mitchells Theaterversion von Friederike | |
| Mayröckers Erzählung „Reise durch die Nacht“ von 1983. Eine Frau fährt m… | |
| ihrem Lebensgefährten im Nachtzug von Paris zurück nach Wien. „Ich handle | |
| nicht gern, und lese nicht gern was eine Handlung hat“, heißt es | |
| programmatisch in diesem von überwiegend finsteren Assoziationen und | |
| aufbegehrenden Reflexionen getriebenen Text. Ihre Reise gerät der | |
| Protagonistin zu einer Erinnerungsfahrt durch ihr bisheriges Leben, | |
| zerschossen von Verdikten und Exklamationen ihr aktuelles Leben betreffend. | |
| Daneben beherrschen Erinnerungen vor allem an den Vater den Text. | |
| ## Meisterhafte Schauspielleistung | |
| Mitchell inszeniert mit den aus ihren früheren Arbeiten bekannten | |
| Ingredienzien. Das Prinzip, dass von Schauspielern gespielte Szenen mit | |
| mehreren Videokameras live gefilmt und auf eine Bühnenwand projiziert | |
| werden, ist die zentrale Produktionstechnik auch dieses Abends. | |
| Und Julia Wieninger, die die Protagonistin spielt, ist das große Pfund, ja | |
| Glück der Inszenierung. Wieningers Gesicht, ein ums andere Mal auch nur | |
| ihre tränengefüllten, übermüdet wirkenden Augen, groß projiziert, fangen | |
| die ganze Wut, den Pessimismus, die Verzweiflung der Frau ein; zweifellos | |
| eine Meisterleistung dieser Schauspielerin. | |
| Mitchell lässt den Gedankenstrom der Reisenden von einer zweiten Spielerin | |
| (Ruth Marie Kröger) ins Mikrofon sprechen; Julia Wieninger spielt „nur“ | |
| dazu. Diese Aufspaltung von Darstellung und Bewusstseinsstrom entspricht | |
| dem heterogenen literarischen Stil des Texts, der von ständigen | |
| (Ab-)Brüchen und thematischen Wechseln geprägt ist. | |
| Die Instantmediatisierung der gespielten Szenen durch die Videofilmer | |
| verweisen ebenfalls auf die Brüchigkeit und Komplexität des inneren | |
| Monologs der Frau. Auch das Bühnenbild (Alex Eales) reflektiert das Prinzip | |
| der Zerstückelung. Die Zuschauer sehen einen Zugwagon von außen, die | |
| Außenwände der Abteile werden je nach Bedarf nach oben weggefahren, so dass | |
| Letztere einsehbar werden. | |
| Dort spielen die Szenen zwischen der Reisenden und ihrem Begleiter, ihre | |
| Monologe, auch die erinnerten Familiensequenzen mit dem dominanten Vater. | |
| Über den Wagons erscheint abwechselnd mit den abgefilmten Spielszenen immer | |
| wieder ein vorproduziertes Video (Grant Gee) von nächtlich-verschwommen, | |
| vorbeirasenden (Stadt-) Landschaften. | |
| ## Auf Normalmaß gestutzt | |
| Das Einzige, was man der Inszenierung vielleicht vorwerfen kann, ist, dass | |
| sie Mayröckers Text glättet. Beim Lesen entzieht sich die komplexe | |
| Erzählung immer wieder dem sicheren Verständnis. Insofern darf man Mitchell | |
| auch wieder dankbar sein, dass sie den Text zurechtstutzt auf Normalmaß. | |
| Von dem beinahe kitschig gleißenden Licht, das die Regisseurin für die | |
| gespielten und gefilmten Kindheitserinnerungen der Frau wählt, muss man | |
| deshalb nicht begeistert sein. | |
| Dagegen ist es erneut ein Beleg für die Relevanz von Mitchells | |
| Regieästhetik, dass die Technik trotz ihrer hohen Präsenz auf der Bühne den | |
| Zuschauer näher an die Sache heranbringt, dass sie den Nachvollzug der | |
| Funktionsweise einer geschundenen, wütenden, leidenden, für Momente | |
| glücklichen Psyche en détail ermöglicht. Selten dürfte der Einsatz von | |
| technischen Übertragungsmedien im Theater sinnfälliger praktiziert worden | |
| sein. | |
| 23 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Haas | |
| ## TAGS | |
| Martin Kippenberger | |
| Theater | |
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