# taz.de -- Kolumne Blicke: Abschied von Mutti | |
> Die Mutti war immer da. Aber nun ist das Konzept der allumsorgenden | |
> Mutter erledigt. Etwas besseres muss man erst noch erfinden. | |
Bild: Mami? | |
Liest noch jemand den Dichter Johannes Bobrowski? Ich eigentlich auch | |
nicht, weil wenn, lese ich gleich Horaz. Bobrowski hat aber etwas geleistet | |
im Leben: Er hat Abschied genommen. Von den „verlorenen Ostgebieten“: | |
Schlesien, Pommern, Ostpreußen; aber auch vom Baltikum, von Polen, von der | |
Ukraine und von Russland. | |
Also von jenem Raum, in dem die slawisch-jüdisch-deutsche Mischkultur ein | |
paar hundert Jahre lang nicht nur Mord und Totschlag hervorgebracht hat, | |
sondern auch, um nur das mir liebste Beispiel zu nennen, das Werk von | |
Joseph Roth. | |
Nach Vernichtungskrieg, Holocaust, Roter Armee, Flucht und Umsiedlung war | |
damit Schluss. Indem Bobrowski stellvertretend, als ein Dichter eben, | |
Abschied nahm – was ihm in der DDR wie in der BRD übel genommen wurde, aus | |
ganz unterschiedlichen Gründen natürlich –, setzte er den Keim des Neuen. | |
Und wie komme ich jetzt zu den Muttis? | |
Als ich klein war, galten Kinder, die nach der Schule in den Hort mussten, | |
als arme Schweine. Ich hatte keinen Kontakt zu ihnen, aber man hörte doch | |
Merkwürdiges – Eltern, die nicht zusammenlebten, Mütter, die an coop-Kassen | |
saßen, traurige Geschichten von vorgekochtem Mittagessen, das die armen | |
Schweine dann ganz allein verzehren mussten. Sie hatten coole | |
Schlüsselbänder um den Hals, aber oft kein Schulbrot dabei. | |
Wenn ich nach Hause kam, war alles bereit. Am größten waren die Sommer, | |
wenn meine Mutter auf einem wackligen Gasherd im Kleingarten gekocht hatte. | |
Nach dem Mittagessen machte ich mit meiner Mutter – meiner Mutti, ja – | |
Hausaufgaben. Mein Mutti war immer da. | |
Es gab keine Diskussionen darüber, schon gar nicht, wenn ich krank war. | |
Meine Mutti hatte immer Zeit; und nur wenn ich nachts erwachte und sie auf | |
dem Weg zur Toilette auf ihrem Bett liegen und dicke Bücher lesen sah, | |
dachte ich: Sieh an – was ist denn jetzt? | |
Aber das blieb nicht lange haften. Eine heute alltägliche | |
Erziehungsberechtigtenauseinandersetzung à la „Wer betreut das Kind, wenn | |
…?“ wäre mir absurd erschienen, sie hätte mir Angst gemacht und ich hätte | |
sie gehasst (meine Mutti war nie krank). | |
Mein Vater hätte sich auch gar nicht um mich kümmern können, weil er noch | |
nicht mal sich selbst ein Brot schmieren konnte (später verstand ich: er | |
kann anderes, auch für mich). Mutti ist heute tot. Nicht meine – zum Glück. | |
Nur Mutti an sich. Man muss ihr nicht nachweinen. | |
Aber manchmal, wenn das Ich-ich-ich-Gezeter der Elternwelt im privaten wie | |
im politischen Raum überhand nimmt, wenn ich die mal verzweifelt, mal | |
aggressiv wegorganisierten Kinder (auch meine) so anschaue; wenn ich die | |
Meinung höre, das Konzept Mutti habe viele „kreative Lebensentwürfe“ | |
verhindert (was stimmt) und mit dem Werfen des Konzepts Mutti auf den | |
Ideologiemüllhaufen der Geschichte würde nun automatisch alles besser (was | |
ganz bestimmt nicht stimmt, jedenfalls nicht für die Kinder), dann denke | |
ich schon, dass ich froh bin, dass ich eine Mutti gehabt habe: Es war | |
wunderschön, es war nicht fair, aber so war es – und es ist vorbei. | |
9 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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