| # taz.de -- Krematorium in Meißen: Letzte Reisen zum Billigtarif | |
| > Das Krematorium in Meißen ist günstig, effizient und schnell. Es | |
| > offenbart aber auch den enormen Kostendruck, der im Bestattungswesen | |
| > herrscht. | |
| Bild: Urnen im städtischen Krematorium von Meißen. | |
| MEISSEN taz | Ein schwerer Mann mit grauen Locken und Strickpullover steigt | |
| über eine schmale Stiege herab, in den Bauch des Gebäudes, dorthin, wo | |
| alles endet. Unten ist es warm und stickig. Der Geruch nach verbrannten | |
| Fingernägeln hat sich zu einer Masse verdichtet, die sich kaum einatmen | |
| lässt. | |
| Jörg Schaldach stört sich nicht daran. Für ihn bedeutet Alltag, den Tod von | |
| seiner sachlichen Seite zu sehen, „als technische Herausforderung“, sagt | |
| er. Hinter der Ziegelwand rechts von ihm lodert ein Feuer mit mehr als | |
| tausend Grad. Unten lässt sich eine Aschenklappe öffnen. Dort kommt das an, | |
| was die Flammen von den Toten übrig lassen. | |
| Viel ist es nicht. Schaldach tritt an einen Arbeitstisch, auf dem eine | |
| Schale mit grobstückiger Asche steht. Er fischt einen blassen Brocken | |
| heraus, hält ihn in seiner fleischigen Handfläche. | |
| Die mineralischen Knochenanteile löst das Feuer nicht ganz auf. Abgekühlt, | |
| werden sie mit den verkohlten Resten des Sargs in einer Presse zu Pulver | |
| gestampft und in die Urne gefüllt. „Die Feuerbestattung bietet einen | |
| schnellen Abschluss der Trauer“, sagt Schaldach. Eine schnelle Beisetzung | |
| ermögliche den Hinterbliebenen „eine schnelle Rückkehr ins Leben“. | |
| Und niemand ist schneller als Schaldach und seine Kollegen im städtischen | |
| Krematorium Meißen GmbH: Hier verglüht eine Leiche in 35 bis 45 Minuten. | |
| Normalerweise dauert es knapp zwei Stunden. „Wer heute kommt“, sagt | |
| Schaldach in seinem gemächlichen, sächsischen Singsang, „ist morgen in der | |
| Urne.“ | |
| Das Krematorium in Meißen wurde 1931 eröffnet, mit wenig Geld, auch damals | |
| waren Krisenzeiten. Kurz nach der Wende wurde Jörg Schaldach beauftragt, | |
| die Anlagen zu modernisieren. Der Verfahrenstechniker war zu DDR-Zeiten im | |
| Glaswerk Bischofswerda angestellt. Von 15.000 Beschäftigten des „Kombinats | |
| Lausitzer Glas“ haben nur 200 ihre Stelle behalten. Schaldach sagt, dass er | |
| keinen großen Unterschied sieht zwischen seiner früheren Arbeit und seiner | |
| jetzigen. „Wo es Glas gibt, da gibt es Öfen. Und Öfen sind ja das Kernstück | |
| eines Krematoriums.“ | |
| ## „Macht’s kurz mit uns“ | |
| Er läuft in ausgreifenden, wiegenden Schritten durch lange, neonbeleuchtete | |
| Gänge, Wendeltreppen herauf und herab. Die Halle im Erdgeschoss steht | |
| voller Särge, von den Wänden bis weit in den Raum hinein. Die Namen der | |
| Toten darin sind mit Kreide auf das Holz geschrieben. | |
| Jörg Schaldach hat viel gelesen über die Geschichte und Kultur von | |
| Bestattungen. Er sagt, dass die Gräber der Toten immer auch etwas über die | |
| Lebenden aussagen. Was werden künftige Archäologen aus den Grabstätten der | |
| Bundesrepublik Anfang des dritten Jahrtausends lesen? Schaldach blickt | |
| durch die dicken Gläser seiner Brille über die Reihen heller Kisten aus | |
| unbearbeitetem Kiefernholz. Viele sind mit einer einfachen Planke | |
| abgedeckt. Wenn Ikea Särge herstellen würde, dann sähen sie so aus. | |
| Schaldach kann sich an Zeiten erinnern, in denen die Leute in den Dörfern | |
| Sachsens sich zum 50. Geburtstag Särge schenkten, oft aufwendig gestaltetes | |
| Tischlerhandwerk, mit Beschlägen und Schnitzereien. Heute kommen die Alten | |
| zu ihm und sagen: „Macht’s kurz mit uns!“ | |
| Die Bestattungskultur verfällt, sagt der Betriebsleiter des Krematoriums. | |
| „Zeitlich kann man einen Zusammenhang mit dem Sozialabbau sehen.“ 2004 fiel | |
| das Sterbegeld der gesetzlichen Krankenkassen weg. Und diejenigen, die | |
| heute ihre Eltern zu Grabe tragen, zählen bereits zu den Ersten, die die | |
| Rentenkürzungen zu spüren bekommen. | |
| ## Weder Gäste noch Musik | |
| Das Krematorium liegt auf dem städtischen Friedhof, als Teil eines | |
| Unternehmens, das Dienstleistungen rund um den Sterbefall bietet. Von der | |
| Abholung der Leiche über die Todesanzeige bis zur Grablegung. Als es die | |
| DDR noch gab, wurden hier 750 Trauerfeiern im Jahr ausgerichtet. Heute sind | |
| es 250. „Jetzt gibt es oft nur noch eine stille Beisetzung, zu der nur die | |
| Familie kommt“, sagt Schaldach, „ohne Gäste, ohne Musik.“ | |
| In Meißen kostet eine Einäscherung 188,90 Euro. Billiger geht es nicht, | |
| nicht in Deutschland. In anderen Städten werden bis zu 800 Euro berechnet. | |
| Am Ende der Halle steht eine Doppeltür offen, vor der gerade der | |
| Transporter eines Bestatters aus Freiberg parkt. Eben stand noch einer aus | |
| Bautzen da. Im Schnitt verbrennen jeden Monat tausend Tote in Meißen, sie | |
| kommen aus ganz Sachsen, sie kommen aber auch aus Berlin, Niedersachsen, | |
| Bayern und sogar aus Baden-Württemberg. Im Sommer etwas weniger, im Winter | |
| etwas mehr. „Ab Totensonntag geht es richtig los“, sagt Schaldach. Dann | |
| lodern die beiden Öfen des Krematoriums in vier Schichten rund um die Uhr. | |
| Das, was sich viele unter einer Beerdigung vorstellen, hat nichts mehr mit | |
| der Realität in weiten Teilen der Branche zu tun. Wie weit beides | |
| auseinanderklafft, zeigte sich, als Mitte Oktober der Wagen eines | |
| Leichentransportdienstes im brandenburgischen Hoppegarten gestohlen wurde. | |
| Die Diebe nahmen auch die zwölf Leichen mit, die darin nach Meißen gebracht | |
| werden sollten. Sie wurden später in einem Wald in Polen wiedergefunden. | |
| ## Enormer Kostendruck | |
| Sammeltransporte, über Hunderte von Kilometern hinweg – der Fall hat nicht | |
| nur ein Schlaglicht auf den Kostendruck im Bestattungswesen geworfen, | |
| sondern auch die Frage aufkommen lassen, inwieweit Niedrigpreise und Pietät | |
| miteinander vereinbar sind. Vom Bundesverband Deutscher Bestatter kam | |
| scharfe Kritik an der „unverantwortbaren Entsorgungsmentalität“ im | |
| Billigsektor der Branche. | |
| Jörg Schaldach winkt müde ab. „Die Kritik ist daneben“, sagt er, „wenn … | |
| die gesellschaftlichen Faktoren betrachtet.“ Eine von drei Beerdigungen in | |
| der Region um Meißen wird vom Sozialamt bezahlt. | |
| Der Betriebsleiter stapft weiter, nach oben ins Lager. Es geht durch | |
| weitläufige Räume voller Särge und Kruzifixe, hinein in eine Kammer mit | |
| deckenhohen Regalen, auf denen sich Schmuckurnen stapeln. Einer der 20 | |
| Mitarbeiter des Krematoriums bemalt sie individuell. „Derzeit laufen | |
| Herbstmotive. Laub, Weintrauben, Pilze“, sagt Schaldach. Manche wünschen | |
| sich aber auch ein Bild ihrer Katzen oder Hunde. Einmal wollte jemand eine | |
| Szene aus „Dirty Dancing“. Die meisten begnügen sich mit der blauen Kapsel, | |
| die im Preis inbegriffen ist. | |
| Heute sollen 60 Leichen „eingefahren werden“, das ist nicht besonders viel | |
| in Meißen. Jörg Schaldach führt in einen Raum mit rot blinkenden Dioden an | |
| Kachelwänden und silbernen Rohren an der Decke. Eine leistungsoptimierte | |
| Abfertigungshalle für die letzte Reise. Zwei Särge stehen bereit auf | |
| Schienen, die zu je einer Ofentür führen. Neben der Tür hängen Kalender mit | |
| Pin-up-Fotos, Mädchen in Hotpants und Highheels, die lasziv posieren – mit | |
| Särgen. | |
| Fast alle der Angestellten wollen auch selbst einmal eingeäschert werden, | |
| und zwar hier an ihrem Arbeitsplatz. Einigen ist sogar wichtig, in welchem | |
| Ofen. „Jeder Ofen hat eine Seele“, sagt der Betriebsleiter. An der | |
| Rückseite steht ein Schreibtisch, an dem ein kleiner drahtiger Mann mit | |
| krausem Vollbart hockt. Klaus Triebel, gelernter Melker, arbeitet seit 16 | |
| Jahren als Feuerbestatter in Meißen. „Hier ist es ruhig, warm und schön“, | |
| sagt er, „obwohl: schön, das dürfte man so gar nicht sagen.“ Auch für | |
| Triebel steht fest, in welchem Ofen sein Körper einmal verbrennen soll. Dem | |
| rechten, Ofen Nummer 2. Warum? „Weil das meiner ist.“ Triebel ist | |
| derjenige, der die Urnen bemalt; auch seine eigene hat er schon fertig. Das | |
| Motiv darauf: sein Ofen. | |
| ## Die Abwärme der Toten | |
| Er steht auf und drückt einen roten Knopf. Es surrt, die Tür schiebt sich | |
| hoch und gibt den Blick auf die Flammen frei. Der Sarg ruckelt vorwärts | |
| durch die Öffnung; das Holz fängt Feuer. Die Klappe schließt sich. | |
| Alles an den Anlagen ist auf Effizienz ausgerichtet, die Luftzufuhr, die | |
| Materialien, der Aufbau. Deswegen kann das Krematorium auch so günstig | |
| arbeiten: Im Schnitt werden pro Leiche 60 Kubikmeter Gas verbraucht. In | |
| Meißen sind es nur zwei. Die Anlagen verbrauchen nur ein Viertel der | |
| üblichen Strommenge. | |
| Nichts wird vergeudet. „Die Wärme hier drin“, sagt Schaldach, „kommt auch | |
| von unseren lieben Verstorbenen.“ Die Hitze, die von den Öfen abstrahlt, | |
| heizt das Gebäude. | |
| Inzwischen wird bundesweit jeder zweite Tote verbrannt. Jörg Schaldach | |
| sagt, dass er bereits 200.000 Leichen „hinter sich“ hat, er hat bei | |
| muslimischen Trauerfeiern Särge in Richtung Mekka gerückt und bei | |
| buddhistischen Beerdigungen Räucherstäbchen angezündet. Der Ingenieur kennt | |
| die Gesetzmäßigkeiten des Todes: Alte brennen besser als Junge, Dicke | |
| besser als Dünne. „Das Fett“, sagt er fröhlich, „wirkt wie Heizöl.“ | |
| Zu Staub und Asche werden sie letztlich alle, Menschen aus Ost und West, | |
| aus Nord und Süd. Das Krematorium in Meißen ist auch das einzige, das Tote | |
| über 250 Kilo annehmen kann. Die schwerste Leiche, die hier jemals | |
| verbrannte, wog 395 Kilo. | |
| Unten in der Trauerhalle hat sich inzwischen eine Gruppe Menschen | |
| versammelt. Auf dem Fernseher im Pausenraum ist zu sehen, wie sie sich nach | |
| und nach auf den Bänken verteilen. Am Tisch sitzen zwei Handwerker und | |
| essen Lebkuchen; die Bestatterin Daniela Whosmann öffnet einen Spind, in | |
| dem eine staubige Stereoanlage steht. | |
| Sie dreht an den Knöpfen; in der Halle ertönt „Amsterdam“, ein Lied des | |
| 80er-Jahre-Popduos Cora. Der Tote war erst 53 Jahre alt; er hat gern mit | |
| seiner Frau zu diesen Liedern getanzt. „Schöne Musik“, sagt die Bestatterin | |
| und wippt mit im Takt. Neben ihr, auf einem Brett über der Kaffeemaschine, | |
| stehen die befüllten Urnen für die nächsten Trauerfeiern bereit, eingepackt | |
| in durchsichtige Plastikbeutel. | |
| 18 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriela M. Keller | |
| ## TAGS | |
| Bestattung | |
| Bestattung | |
| Obdachlosigkeit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Norbert Fischer über Feuerbestattung: „Unwürdige Tricks“ | |
| Hätte die Kirche sie nicht bei Todesstrafe verboten, wäre die schon in | |
| prähistorischer Zeit praktizierte Feuerbestattung konstant in Gebrauch | |
| geblieben. | |
| Beisetzung von Obdachlosen: Unbekannt bestattet | |
| „Im Hause des Vaters gibt es viele Wohnungen“, spendet Bruder Markus in | |
| seiner Traueransprache Trost. Im Leben hatten die Verstorbenen kein Obdach. | |
| Umweltfreundliche Krematorien: Grüner sterben | |
| Krematorien verbrauchen viel Energie und setzen Treibhausgase frei. | |
| Ökosärge und eine neue Einäscherungsmethode sollen für Abhilfe sorgen. | |
| Dignitas-Chef übers Sterben: „Gute Arbeit soll bezahlt werden“ | |
| Ludwig Minelli, Chef der Suizidhilfe-Organisation Dignitas, erklärt die | |
| Kosten eines Freitods. Das in Deutschland geplante Vermittlungsverbot | |
| stärke seine Organisation. |