Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regisseur über das Politmilieu als Sujet: „Schweiß, Blut, Kotze…
> Ein Gespräch mit dem französischen Filmemacher Pierre Schoeller über
> US-amerikanische Polit-Action und nicht verteilten Reichtum.
Bild: Szene aus Pierre Schoellers „Aufsteiger“: Der Minister träumt, und …
taz: Herr Schoeller, die Politik, das Politikermilieu beschäftigen Sie
schon lange – was hat Sie speziell im Hinblick auf einen Film daran
interessiert?
Pierre Schoeller: Ich wollte etwas filmen, das ein Stück weit unfassbar
bleibt. Und das wiederum liegt in der Natur der Macht – nicht greifbar zu
sein. Ich wollte der Bestie in die Augen sehen. Das im Kino zu machen, war
jedoch eine echte Herausforderung. Es sollte ja ein realistischer, ernster
Film werden, der sich aber auch einen freien, menschlichen Blick erlaubt
und Überraschungen in Bild und Ton. Und ich wollte das Kino mit der
Gegenwart konfrontieren, mit dem, was in einer westlichen Demokratie vor
sich geht.
Im US-Kino gibt es anders als in Europa eine lange Tradition, das
Politmilieu und seine Repräsentanten zum Filmsujet zu machen. Haben Sie
sich damit beschäftigt?
Die Amerikaner filmen meistens Fakten, Ereignisse. Was mich interessiert,
ist der Action-Aspekt, die große Dynamik und Spannung. Ich habe mir zum
Beispiel Alan J. Pakulas „Die Unbestechlichen“ von 1976 angesehen. Der hat
exzellente Schauspieler, ein gutes Buch mit gut geschriebenen Dialogen,
eine sehr dynamische Inszenierung. Zugleich ist es unnachahmlich, wie hier
jene Momente gefilmt werden, in denen nichts passiert.
Ein anderer Film, der mir wichtig war, ist „Der Kaiman“ von Moretti – ein
sehr intelligenter, berührender Film über eine politische Figur. In
Frankreich ist er nicht gut angekommen, obwohl ich persönlich ihn besser
fand als „Il divo“, aber ich denke, die Spannung hat gefehlt.
Ist es im europäischen Autorenkino nicht auch etwas verpönt, Politik mit
Action zu verknüpfen?
Das ist mir egal. Die Fernsehserie „West Wing“ hat ja beispielsweise gut
gezeigt, wie man Stunden um Stunden politischer Vorgänge erzählen kann.
Beim Publikum war sie ein großer Erfolg.
Sie beschreiben „Der Aufsteiger“ selbst gern als Actionfilm. Können Sie
etwas zum Schnitt sagen, der ja nicht dem klassischen Actionkino
entspricht?
Na ja – es sieht nicht aus wie bei den Bourne-Filmen, die ich übrigens sehr
mag. Man soll schon verstehen, worum es geht. Man befindet sich schließlich
in einem spezifischen Milieu, nicht unter Polizisten oder Gaunern. Vieles
vollzieht sich hier in Gesprächen, Telefonaten. Andererseits ist der Film
von einem Gefühl der Panik geprägt, von Angst, Stress und der Euphorie von
Stress.
Haben Sie Dinge wie etwa die verblüffende Kamerabewegung nach dem Crash
eigentlich schon so im Drehbuch stehen?
Mein Buch ist sehr genau, es enthält auch schon Regieanweisungen,
allerdings nicht bis ins letzte Detail. Es gab nichts zur Musik oder zum
Schnee, dem Winterlicht – das ist dann dazu gekommen.
Vor „Versailles“, Ihrem Kinodebüt 2008, waren Sie lange Drehbuchautor.
Worin liegt der größte Unterschied, wenn Sie ein Buch an einen anderen
Regisseur abgeben?
Man schreibt dann eben für jemand anderen, meine eigenen Filme haben damit
wenig zu tun. Aber ich habe 2005 zusammen mit Jean-Pierre Limosin das Buch
für eine Fernsehproduktion geschrieben, und die Hauptfigur war ein Affe,
ein Bonobo-Weibchen. Das war eine sehr wichtige Erfahrung für mich, weil es
sehr schwierig zu schreiben war. Und es hat mir gezeigt, dass man in puncto
Empathie, Psychologie, der Projektion von Gefühlen auf eine Figur sehr weit
gehen kann.
Der Film war auch nicht leicht zu drehen. Aber alle waren sehr berührt von
diesem Affen, man ist mit ihm mitgegangen wie mit einer menschlichen Figur,
weil wir ihn als einzigartig behandelt haben. Und dasselbe gilt auch für
den Minister – er ist ein einzigartiges menschliches Wesen.
Er ist auch ein Mensch, der aufs Klo geht, kotzt, blutet, Sex hat.
Genau – Schweiß, Blut, Tränen, Kotze, Sperma, alles da. Olivier Gourmet war
in diesem Zusammenhang außerordentlich. Er hat sich auf jeden Moment ganz
eingelassen.
Die Politik ist ein sehr physisches Metier, sagen Sie. Im Film bewegt sich
der Minister mit Entourage oft wie ein schwarzer Block durch Gänge, Gebäude
und Menschenmengen. Haben Sie solche Bewegungsmodi und Verhaltensweisen in
der Vorbereitung auch studiert?
Ich sammele Fotos. Da sind mir bestimmte Dinge aufgefallen – etwa dass
Politiker nie als Einzelne unterwegs sind: Da sind die Leibwächter, die
Pressesprecher und so weiter. Die Politfotografie ist in dieser Hinsicht
sehr aufschlussreich, weil etwas angehalten wird und man ganz genau
hinsehen kann. Es gibt einen deutsch-jüdischen Fotografen aus den 1930er
Jahren, der mich inspiriert hat, Erich Salomon. Er war der erste Fotograf,
der Staatsmänner gecovert hat, ihr Leben, die Kulissen des politischen
Lebens.
Können Sie für Nichtfranzosen erklären, was es mit der Rede von André
Malraux auf sich hat, die Sie im Film vorkommen lassen?
Die Rede ist sehr berühmt und sehr wichtig im politischen Leben
Frankreichs. Es ist jener Moment, als die Asche von Jean Moulin, einer
bedeutenden Figur der Résistance, ins Panthéon in Paris, die Ruhestätte
großer Männer, überstellt wird. Und Malraux hält seine Rede, während ein
Gewitter niedergeht, bei Wind und Wetter. Der öffentlich-rechtliche
Rundfunk hat das 1964 mitgeschnitten.
Es handelt sich auch weniger um eine politische Rede, als um ein Stück
Kulturgeschichte. Malraux war ja Schriftsteller, der Text ist hervorragend
formuliert, und Malraux trägt ihn vor wie ein großer Schauspieler. Für den
Film wollte ich einen historischen Faden spannen, und mein Protagonist
sollte etwas haben, das er bewundert. Die Politiker in Frankreich sind mit
der Geschichte sehr vertraut. Man zitiert sie, spielt auf sie an, hält mit
der Geschichte Zwiesprache.
Das Volk ist in Ihrem Film eher indirekt präsent, vor allem über Medien,
aber einmal wird wörtlich auf die „grande colère“, also die große Wut der
Menschen, Bezug genommen.
Der Film ist gezeichnet davon, wie ich Frankreich 2010/ 2011 wahrgenommen
habe. Das Volk, also wir, sind ja eigentlich der Sinn der Politik. Der
Zustand des Landes – dem sollte ihr Hauptinteresse gelten. Aber in
Frankreich herrscht ein Zustand der Ungleichheit, der gewaltig ist: die
Nichtverteilung des Reichtums, der Anstieg der Arbeitslosigkeit, das
Stagnieren der Löhne, all das. Es gibt wachsende Armut, gravierende
Probleme im Bildungssystem, in der Krankenversorgung und so weiter – so
kann es nicht weitergehen, das erzeugt eine große Wut.
„Der Aufsteiger“. Regie: Pierre Schoeller. Mit Olivier Gourmet, Michel
Blanc u. a. Frankreich/ Belgien 2011, 115 Min.
22 Nov 2012
## AUTOREN
Isabella Reicher
## TAGS
Film
Politik
TV-Serien
Familie
Filmfestival
Wehrmacht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dänische TV-Serie: Macht heißt opfern
Intrigen, verkaufte Ideale, Geschacher mit den Medien: Auf Arte startet nun
die zweite Staffel der dänischen Politserie „Gefährliche Seilschaften“.
Familienkino aus Uruguay: Rodolfo faltet die Nachthemden
In „3/Tres“ erzählt der Regisseur Pablo Stoll Ward, wie ein Exvater sich in
seine Familie zurückschiebt – dreist und stoisch.
„Bis(s) zum Ende der Nacht – Teil 2“: Die Wunschmaschine der Mädchen
Mit „Breaking Dawn – Bis(s) zum Ende der Nacht“ endet die „Twilight“-…
Auch Teil 2 bedient hemmungslos Mädchenfantasien und -eitelkeiten.
7. Filmfestival von Rom: Anschlüsse und Kollisionen
Festival-Direktor Marco Müller ist von Venedig nach Rom gewechselt. Nun
wird Kino auch dort eine Herausforderung für experimentelle Formate.
Filmstart „Im Nebel“: Daneben steht verloren ein Schaf
„Im Nebel“ ist der zweite Spielfilm von Dokumentarfilmer Sergei Loznitsa.
Er handelt von Schafen und Soldaten in einem Wald in Weißrussland.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.