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# taz.de -- Die Wahrheit: Tränen der Hoffnung
> Martin Walsers Tagebuch gefunden! Essen, München, Nußdorf.
Bild: Seit mehr als neun Wochen geht dem Oberschussel Martin Walser nun sein ac…
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der
85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck
nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch
gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem
Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.
Essen, Dezember
Habe die Stadt nur vom Taxi aus gesehen. Häuserklötze Cornflakes-Packungen
gleich. Betonkartons für Menschen ohne Wohnwertanspruch. Ich liege im Hotel
darnieder. Leide unter ergreifendem Husten. Keuchen rüttelt mich, Röcheln
schüttelt mich. Die Bronchien schmerzen bei jedem Atemzug.
Jedes Luftholen wird von einem unheilvollen Scheppern begleitet. Es klingt,
als musiziere ein Dilettant auf einem Waschbrett. War vor der Abreise
erneut beim Doktor. Er setzt auf Zeit und Eukalyptussalbe. Entgegen meiner
Empfehlung spricht er sich gegen ein Antibiotikum aus.
Essen, Fußgängerzone
Man hastet. Die Zeit der Besinnung bleibt ohne Sinn und zunehmend ohne
Gesinnung. Wer, so frage ich, denkt in diesen Stunden an Gott? Oder an
Jesus? Das Weihnachtsfest wird zum Rosenmontagszug der Ungläubigen. Sie
verkleiden sich als Knecht Ruprecht und hängen ihren Kindern Engelsflügel
an den Rücken.
Und sind besoffen von der Idee eines Festes im Namen des Herren. Eines
Herrn, den sie nur loben und preisen, wenn er ihnen am 24. Dezember den
Freibrief zur Völlerei ausstellt und ihre Habgier unter dem Mantel des
Schenkens versteckt.
Habe mir vorhin eine Tüte gebrannte Mandeln gegönnt. Nun wieder: die Galle.
Essen, Bahnhof
Bahnhöfe – Ihr ward mal Höfe für die Bahn. Aus-, Ein- und Umsteigeplätze
für Menschen. Für Reisende. Für Pendelnde zwischen dem Da und Dort, dem
Jetzt und Eben. Anlaufpunkt für Sehnsüchtige, Endstation für Wartende.
Zuflucht für Hoffende, eine Heimstatt für Heimatlose. Ein Zug kam, der
Schaffner pfiff, Menschen stiegen ein. Ein Junge rief: „Extrablatt,
Extrablatt!“, eine alte Frau bot Maroni feil.
Heute seid Ihr die Plattformen jeden Winkel berechnender Konsumarchitekten.
Fress- und Ramschstätten mit Gleisanschluss. Euer Tand, Eure billigen
Brezen, die Ihr mit Butterersatz beschmiert, treiben den Verzweifelten auf
die Bahnsteige, auf dass bald ein Zug komme und ihn wegbringe von dieser
sich anbiedernden Konsumdirne mit ihrem Parfum von altem Fett und von ihren
uniformierten Zuhältern, die in der Halle patrouillieren, auf dass niemand
der Dirne an ihre großen Brüste greife.
München, Dezember
M. auf ein Maß im Augustiner getroffen. Findet für sein neues Buch keinen
Verlag. Es ist eine Schande. 23 Bücher, seit fast 40 Jahren Autor und dann
ohne Vertrag. Habe gesagt, würde mit meinem Verleger sprechen. Der muss
etwas tun. Das kann ein Land wie diese Kulturnation sich nicht leisten,
einen wie M. nicht publizieren zu lassen. Seiner Stimme kein Gehör zu
geben. Habe sein Maß bezahlt.
Am Nachmittag am Maximilianeum gewandelt. Diese Pracht! Diese gefangene
Zeit! Diese Daseinsgewalt! Was ist mein kleiner Schritt gegen die
Erhabenheit des Ausdrucks, den die Baumeister in Stein zu fassen
verstanden!
Am Fuße des Portals eine Mutter mit Kind beobachtet, die in der Kälte
innehaltend dem Kleinen voller Geduld und Wärme den Brei in den Mund
löffelte. Ein Bild einer geschlossenen Kapsel gleich, in die kein Ungemach
Einzug halten kann, in der kein Außenstehender die natürlichste aller
Verbindungen zu durchtrennen vermag.
Die Frau ist gute Figur für kleine Szene in „Hierseinsland“. Sie könnte
Friedemann Siegerlings Hausmädchen sein, das nur am freien Sonntag ihr Kind
sieht, das von ihrer Schwester großgezogen wird.
München
„Hedda Gabler“. Residenztheater. Geweint.
München
Heute Gespräch mit Knesebeck Verlag wegen Ausstellung zu meinem Lebenswerk.
Mittagessen bei Dallmayr, dann zurück nach Hause.
Zug nach Friedrichshafen
Muss meine Uhr im Hotelzimmer liegen gelassen haben. Habe schon angerufen,
aber bislang ist nichts abgegeben worden. Sie wollen sich dann melden. Bin
nicht ohne Hoffnung.
Nußdorf
Werden die Weihnachtstage zu Hause verbringen. Die Kinder kommen. Hoffe,
Johanna bringt nicht wieder eine Freundin mit, die sich gerade getrennt
hat. Nicht Krankenschwester, sondern Herzensschwester ist sie. Hat schon
als Kind ihre Puppen in einen Gesprächskreis gesetzt. Rund um die Feiertage
Leute aufzulesen, die meinen, kurz vor Weihnachten, eine Kerbe in ihr Leben
schlagen zu müssen und es dann nicht bewältigen können, sind ihre
Spezialität.
Letztes Jahr war es eine Schmuckdesignerin, das Jahr zuvor eine Bekannte
aus Berlin, die gemeint hatte, sich die Pulsadern öffnen zu müssen, in der
Hoffnung, dass dann der Geliebte Weihnachten bei ihr statt bei seiner Frau
sei. Als Romanidee zu schnöde. Aber vielleicht gut, wenn er am Ende weder
bei der einen noch bei der anderen ist, sondern bei einer Dritten.
Vielleicht aber auch schlicht zu banal.
28 Nov 2012
## AUTOREN
Silke Burmester
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