# taz.de -- Die Wahrheit: Die Poesie des Kreisens | |
> Martin Walsers Tagebuch gefunden! Leipzig, Paris, Bonn. | |
Bild: Seit mehr als neun Wochen geht dem Oberschussel Martin Walser nun sein ac… | |
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der | |
85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck | |
nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch | |
gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem | |
Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht. | |
November, nach Leipzig | |
Dort, wo sonst die Landschaft ins Waggonfenster leuchtet, ist heute nur die | |
Vermutung, die Ahnung von Land. Bäume, Wiesen, Hügel, Knicks aufgelöst im | |
Einheitswesen des Novembernebels. Grenzenlose Düsterschwaden. Kein Himmel, | |
kein Boden, eine Sphäre der Grausamkeit, die die Zeit frisst, das Dasein, | |
die Absicht. In die der Zug hineinrollt, wie in einen Tunnel der Auflösung. | |
Das Szenario ein jährlich wiederkehrendes Geschöpf dieser 30 Tage zwischen | |
Oktober und Dezember. Diesem Einfallstor zwischen Herbst und Winter, der | |
Pforte mit den Wächtern in Grau. November, das Brandenburg unter den | |
Monaten. | |
Leipzig, im Hotel | |
Der Magen setzt mir wieder sehr zu. Käthe meint es gut und hat mir einen | |
Henkelmann mit Buchweizengrütze mitgegeben. Doch, wie denkt sie sich das? | |
Dass ich in meinem Abteilwagen sitze und wie ein alter Mann meinen spänigen | |
Schlabber in mich hineinlöffle? Bin in den Speisewagen gegangen und habe | |
mir die Rouladen bestellt. | |
Witzigmann-Wochen bei der Bahn. Die waren auch gar nicht mal so schlecht. | |
In Burgundersoße mit Wacholder und einem Hauch Persischer Nelke. Doch diese | |
kleine Abweichung von Professor Doertings Diätplan bleibt nicht ungesühnt. | |
Wie bei einem Geysir das dampfende Wasser stößt die Säure in | |
unkontrollierbaren Schüben hoch. Es sind noch drei Stunden bis zur Lesung. | |
Muss mich niederlegen, in der Hoffnung auf Beruhigung. | |
Leipzig, Café Wien | |
Wieder Leipzig. Diese Stadt der Gestandenen. Geschichte in Bürgerhäusern. | |
Aufstand der Unterständigen. Heute: Fassaden, die der Geschichte gemahnen, | |
die einen nicht hinauslassen aus der Verantwortung. Die einen | |
Schriftsteller, einen Chronisten der Deutschen Seelengeschichte nicht | |
freistellen von der Aufgabe, festzuhalten. Und die mir zurufen: Schreib, | |
schreib, schreib! | |
Romanidee: Zeit des Umbruchs vor dem Hintergrund einer Liebe. 1989. Er: | |
Lehrer, sie: Bibliothekarin. Sie in der Kirche aktiv, er im Zwiespalt. | |
Verwicklungen, Auseinandergerissensein, Wiedersehen bei Mauerfall. Doch es | |
ist zu spät. Die Mauer des Vertrauensbruchs lässt sich nicht einreißen. | |
Gelegenheit genutzt und beim Friseur gewesen. Meike, 27, zwei Kinder, sechs | |
und acht, alleinerziehend. Lebt von 980 Euro. Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. | |
Ohne Klage. Sagt, in der DDR war auch nicht alles besser und mit ein wenig | |
schwarz nebenher, geht es schon. Hat den Wirbel gut in den Griff bekommen, | |
und an den Ohren, nicht zu kurz. | |
Paris, Flughafen, November | |
Irmi wollte mich abholen. Doch der Stau lässt sie stecken. Soll auf sie | |
warten. Wäre mit der Metro bereits seit fünfunddreißig Minuten am Gare du | |
Nord. Selbst hier, dort, wo alle Nationen verschmelzen, sind die | |
Französinnen unverkennbar: Französinnen. Die Haltung einer Tänzerin, die | |
kleinen Schrittchen, mit denen sie über das Linoleum fliegen, als wollten | |
sie die Spatzen nicht verschrecken, die Erhabenheit, mit der sie den Kopf | |
tragen. | |
Paris, Taxi | |
Blick aus dem Fenster auf Vorüberziehendes. Was weiß war, ist grau. Was | |
grau war, schwarz. Eine Stadt wie ein Taubenschiss. | |
Paris, Hotel | |
Heute Abend Treffen mit dem deutschen Botschafter, meinem Verleger und | |
französischen Kollegen. Morgen Lesung. Habe mein blaues Jackett vergessen. | |
Irmi holt mich gleich ab, und wir gehen eines kaufen. | |
Erste Dezembertage, Bonn | |
Ein Gang durch die Beamtenstadt. Der Gedanke Europas, ja der Welt, | |
verwaltet in Stadtvillen mit gekämmtem Vorgarten. Die Vision eines | |
Kontinents als Miniaturordnungsland. Noch immer sind die Vertreter Europas | |
vertreten. Noch immer agieren die studierten Visionäre auf | |
Kleinstaatenniveau. Am Rhein: ein neuer Gästeklotz. Das Kameha Grand. | |
Spielt den EU-Verwaltungsmeistern London vor, als hätte es Adenauer und | |
sein Dackel-Deutschland nie gegeben. Bin froh, noch einmal bei Frau Demel | |
in ihrem hübschen Hotel Zum Rhein untergekommen zu sein, wo zum Frühstück | |
das Graubrot auf Porzellantellern mit Blumendekor serviert wird und nicht | |
etwas, das sich „Toastmuffin“ schimpft und auf Schiefertafeln kommt. | |
Bonn, Hotel, Fernsehen | |
Formel eins. Kraft-stoff-verbrauch. Hochgezüchtete Motorenhengste, Araber | |
der Ingenieurskunst, die nur laufen, wenn man ihnen unablässig das flüssige | |
Gold in den Rachen schüttet. Mitleidloses Wegschlürfen der Ressourcen gegen | |
Luftgift im Tausch. Saugen Gold, geben Gift. Eine Männeroase. | |
Eingespielte Handgriffe, sekundenschnell. Reifenwechselballett. Kolben, | |
Schrauben, Tankstutzen. Auf dem Parcours die Poesie des Kreisens. Fahren | |
ohne Anzukommen. Die Wiederholung als Instrument auf der Suche nach | |
Vollendung. In der Kurve der Kontrollverlust: Heldenpirouetten. | |
21 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Silke Burmester | |
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