Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Im Wechselspiel der Ufer
> Martin Walsers Tagebuch gefunden! London, Stuttgart, Luzern.
Bild: Unentwegt denkt Martin Walser an sein geliebtes Tagebuch, von dem immer n…
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der
85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck
nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch
gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem
Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.
London, September
Wie alle großen Städte, so dominiert auch hier der Fluss wie ein stiller
Diktator. Befiehlt den Menschen, sich auf eine Seite zu schlagen. Das
Leben, das Jetzt als Resultat eines stetigen Entweder-Oders. Brücken
schlagen die Verbindung zum Anderen, das man niemals erreicht, ohne das
Hier zu verlassen. Ein ewiges Wechselspiel, ein Entscheidungsspiel zwischen
den Ufern, die ausgerechnet das Gemeinsame trennt.
In diesen Tagen könnte man der Annahme verfallen, dieses Land sei der
Erlebnispark eines Regenmantelfabrikanten. Unablässig schüttet der Himmel
sein Wasser aus, als gelte es, das Meer um die Insel zu füllen.
Die Menschen scheint es nicht zu stören – den Kopf in jener gebeugten
Haltung zu tragen, mit den Schultern unter den Ohren, so dass sich der
Spalt zwischen Nacken und Kragen schließt, scheint in ihrer DNA
festgeschrieben; selbst dann verbleiben die Briten in ihrer
Schildkrötenhaltung, wenn der Regen eine Pause macht.
Bin heute Abend beim Botschafter zum Essen eingeladen. Treffe dort auf J.
K. Rowling, die angeblich an ihrem ersten Erwachsenenroman arbeitet. Hatte
auf die Anwesenheit von John le Carré gehofft, nicht nur, um ihm eine
Druckfahne meines neuen Romans zu überreichen. Auch weil Frauen in Rowlings
Alter, zumal erfolgreich, häufig von jener Dörrheit ergriffen sind, die man
früher als altjüngferlich bezeichnete.
London, Hotel
Wollte vorhin Käthe anrufen. Ich habe jetzt ein Telefon mit einer Fläche.
Ziffern unter Glas haben die reiskorngroßen Tasten abgelöst, von denen
meine Finger so häufig zwei auf einmal genommen haben. Hat mein
Schwiegersohn mir besorgt. Weil ich damit unterwegs auch online sein kann.
Die Kinder waren besorgt, weil ich in letzter Zeit mehrmals in den falschen
Zug gestiegen bin. Wenn ich mal wieder verloren ginge, könne ich mich mit
solch einem Gerät selbst orten, sagen sie.
Aber das Tippen macht mir mit diesem Telefonapparat keine Freude, weil es
nur die Illusion des Tippens ist. Die Finger gleiten über das Glatt,
berühren den Gedanken einer Zahl dahinter, auf dass die Verbindung in die
Welt geformt wird. Das Reale verliert sich.
Das Materielle ist nur noch eine Illusion, vorgegeben von Technikern auf
fernen Kontinenten, die Dinge erdenken für Menschen, deren Leben, deren
Realität sich zusehends im darstellenden Raum der Nullen- und
Einser-Kombination eines Computers abspielt. Das Zeitalter der
Entmaterialisierung hat uns längst ergriffen, und seine kalte Kralle
beginnt sich zu schließen. Wo, so frage ich, bleibt da die Liebe?
Heimweg von Stuttgart, im Zug
Hatte vorhin ein Gespräch mit meinem Arzt. Die Blutwerte sind so weit in
Ordnung, nur meine Galle bereitet ihm nach wie vor Sorge. Warum das Knie
nun ständig dick ist, vermag er auch nicht zu sagen, schiebt es aber auf
die Ernährung. Zu viel Schweinefleisch. Dabei ist der Mann noch nicht
einmal Moslem, sondern Franke.
Er empfiehlt mir eine Kur in der Klinik von Professor Doktor Lemberger. Der
führt eine Körner-Klinik bei Bad Driburg. Drei Wochen lang wird man zum
Getreidefressen verdonnert. Einem Federvieh gleich pickt man Körner und
nährt sich von stillem Wasser. Putin soll da auch gewesen sein.
Luzern, Hotel Place, Ende September
Wieder gleicht die Ankunft dem Gefühl, nach Hause zu kommen: Luzern, Perle
meiner Seele, empfängst mich im Sonntagsstaat! Wie gestärkt und geplättet
liegt er da, der König Vierwaldstättersee um den seine stummen Diener, die
Berge sich sammeln und in dessen Mitte die weiße Ausflugsflotte zur
Begrüßung ihre Aufwartung macht. Der Himmel gibt sich ein blaues
Stelldichein und am Ufer flanieren Jung und Alt in ihrem eidgenössischen
Wohlstand, dass es den Augen eine Weide ist.
Und dann diese wunderbaren Laute! Dieses den Krähen gleiche Krächzen, das
den Kreuzgenossen aus den Kehlen dringt! Vor allem die Konsonanten kratzen
vergnügt an den Ohren wie stumpfe Kufen auf Eis. Selbst Kinder, diese
unschuldigen Engelswesen, fühlen sich dem unverfälschtem Klang ihrer
Herkunft verpflichtet und stoßen mit Wonne die schrabbenden Laute aus, wenn
sie sich beim Namen rufen. Bei manch Altem tönt es gar, als reibe man mit
Stahlwolle auf rostigem Grund. Kein Wunder, dass ausgerechnet dieses Volk
mit einem Halsbonbon berühmt wurde.
Sitze auf meinem Lieblingsplatz im großen Salon. Auf der Terrasse ist es
bereits ein wenig frisch. Unaufgefordert hat man mir eine Tasse Eisenkraut
mit Honig gebracht. Da weiß man sich wahrlich willkommen!
Hatte auf der Zugfahrt eine sehr schöne Roman-Idee, doch weil der Schaffner
kam, verpasste ich den Moment, sie aufzuschreiben. Jetzt ist sie weg. Hatte
irgendetwas mit einem Mann und einer Frau zu tun. Zu dumm, dass sie mir
einfach nicht wieder einfallen will!
7 Nov 2012
## AUTOREN
Silke Burmester
## TAGS
Silke Burmester
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.