# taz.de -- Kunst und Migration: Die Wut, die der Alltag mit sich bringt | |
> Hamburg hat kein zeitgenössisches migrantisches Theater. Doch beim | |
> Festival „Krass“ auf Kampnagel haben alle Akteure einen | |
> Migrationshintergrund. | |
Bild: Sonnenaufgang in Hamburg. | |
Branko Šimić hat’s eilig, gleich beginnt das Stück, das er inszeniert hat, | |
und er möchte das Publikum begrüßen, möchte ein paar Worte sagen zu dem, | |
was er „das Phänomen“ nennt. Im Laufschritt steuert er durch das Foyer der | |
Hamburger Spielstätte Kampnagel und bleibt doch stehen, als er alte | |
Bekannte sieht. | |
Umarmung, Begrüßung, man spricht bosnisch miteinander. Der 44-Jährige Šimić | |
ist gebürtiger Bosnier, außerdem ist er Hamburger und Regisseur und der | |
Kurator des Festivals „Krass“, das bis Ende dieser Woche auf Kampnagel | |
Hamburg läuft. | |
„Krass“ lädt ein zu Theater, Konzerten, Lesungen und Vorträgen. Alle | |
Akteure haben einen Migrationshintergrund, der in ihrer Kunst eine Rolle | |
spielt. Šimić spricht von dem „Phänomen der zeitgenössischen | |
Migrantenkunst“, dem das Festival eine Plattform geben wolle. Dabei liegt | |
der Akzent auf „zeitgenössisch“. Šimić’ These: „So eine Plattform gi… | |
Hamburg bisher nicht.“ | |
In der Tat hat Hamburg keine feste Institution, die wie das Berliner | |
Theater Ballhaus Naunynstraße auf zeitgenössisches migrantisches Theater | |
fokussiert ist. Hamburg hat lediglich die ein oder andere Aufführung auf | |
Kampnagel, hat das interdisziplinäre, bereits zwölf Jahre alte | |
Eigenarten-Festival und die hoch kulturellen Lessing-Tage am | |
Thalia-Theater. Šimić reicht das nicht: „Wir versuchen ein Festival, das | |
sich mit Migrantenkultur jenseits des sozialen und politischen Diskurses | |
beschäftigt. Wir versuchen, eine Realität abzubilden, die vielen unbekannt | |
ist.“ | |
## Jugendlichen in Hamburg-Wilhelmsburg und Bremen-Tenever | |
In Šimić’ Inszenierung „Ghetto Blaster“ geht es um den Alltag von | |
Jugendlichen in den Stadtteilen Hamburg-Wilhelmsburg und Bremen-Tenever. | |
Vor allem geht es um die Wut, die dieser Alltag mit sich bringt. In einer | |
Collage aus gefilmten Interviews, Brandreden, Anekdoten vom | |
Alltagsrassismus, einem gespielten Computerspiel und viel Tanz machen sich | |
die acht jungen Performer Luft. „Ghetto Blaster“ ist ein Befreiungsschlag | |
mit dem Ziel, Direktheit zu erzeugen. Dabei reicht die Textebene von der | |
Plattitüde bis zum Akademikerdiskurssprech, während der Tanz eine | |
beeindruckende Energie entwickelt. „Migration ist Bewegungslehre“ ist ein | |
programmatischer Satz in dieser Inszenierung. | |
Im größtmöglichen Kontrast dazu steht der türkische Liedermacher Tekin | |
Sengül. Er ist Anfang 50 und sitzt allein mit seiner akustischen Gitarre | |
auf der Bühne, um dort exakt das zu tun, wofür Reinhard Mey berühmt | |
geworden ist. Sengül singt von den „Bergen aus Wein“ und wünscht sich: �… | |
gut zu mir – atme in mein Herz.“ | |
Sengül ist in Deutschland aufgewachsen und machte Ende der 1990er in | |
Hamburg Schlagzeilen, weil er nach 25 Jahren in Deutschland und nur vier | |
Jahren in der Türkei bei der Hamburger Ausländerbehörde keine | |
Aufenthaltserlaubnis mehr beantragen wollte. Mit seinen schmalzigen Songs | |
hat diese Geschichte nur noch mittelbar zu tun: In ihnen geht es um die | |
Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit, die sicher kein spezifisch | |
migrantisches Phänomen ist. | |
Einen ebenso universellen Zugang erlaubt das Theaterstück „Schnee“, eine | |
Adaption des gleichnamigen Orhan-Pamuk-Romans durch das Berliner Ballhaus | |
Naunynstraße. Darin verschlägt es einen Schriftsteller in eine deutsche | |
Kleinstadt, in der gerade die Islamisten die Macht übernehmen. Es ist die | |
Verarmung der Menschen, durch die in „Schnee“ die radikalen Kräfte | |
Oberwasser bekommen. | |
## „Postmigrantisches Theater“ im Ballhaus Naunynstraße | |
Die Berliner Kollegen vom Ballhaus Naunynstraße haben für ihre Arbeit das | |
medienwirksame Label „postmigrantisches Theater“ erfunden und meinen damit | |
Geschichten, die zur zweiten und dritten Generation der nach Deutschland | |
eingewanderten gehören, zu Leuten also, die die Spannungen eines Lebens | |
zwischen den Kulturen tagtäglich zu spüren bekommen. | |
Vom Erzählen solcher Geschichten ist das Hamburger Festival „Krass“ noch | |
ein gutes Stück entfernt: Statt die narrative Tradition in Deutschland zu | |
erweitern, geht es eher um dokumentarische Ansätze mit dem Ziel, sich | |
gegenseitig kennenzulernen. | |
Was das postmigrantische Theater betrifft, hat Hamburg also noch einiges | |
nachzuholen. Aber die Chancen dafür stehen gut: Erstens soll das | |
„Krass“-Festival fortgeführt werden. Zweitens war es auch in Berlin ein | |
Festival, das zur Gründung des Ballhauses Naunynstraße führte. Drittens | |
fängt im Herbst 2013 die auch transkulturell arbeitende Karin Beier am | |
Hamburger Schauspielhaus an. Als Intendantin immerhin. | |
11 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
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