# taz.de -- ICE-Fahren im Winter: Wir waren ein Flashmob | |
> Rucken, Stehen, Langsamfahrt. Halt. In einem havarierten ICE zur | |
> Weihnachtszeit werden aus Menschen Passagiere. Unzufriedene Passagiere. | |
Bild: Wehe den Bahn-Kunden, wenn es schneit: „Meine Damen und Herren, beachte… | |
Im ICE von München nach Berlin, es hat geschneit. Ab Nürnberg gibt es | |
Probleme. „Meine Damen und Herren, beachten Sie bitte folgende Durchsage.“ | |
Ein technischer Defekt. Es folgt: Rucken, Stehen, Langsamfahren, es zieht | |
sich. Jena Paradies, Naumburg: Rucken, Stehen, Anfahren. Hinter Halle geht | |
es nicht weiter, beim nächsten Halt, wird angekündigt, muss der hintere | |
Zugteil abgekoppelt werden: alle Passagiere nach vorn. | |
Aus Menschen werden Passagiere, die haben bezahlt, sind unzufrieden: Eine | |
halbe Stunde vor Bitterfeld steht der Zug, und die Passagiere auf den | |
Gängen. Sie bauen Barrikaden aus Gepäckstücken, Essensresten und Kindern. | |
Wer von der Toilette zu seinem Platz zurück will, hat Pech. „Jeht jetze | |
nicht,“ sagt ein Soldat. Einer weiß, dass es in Frankreich besser ist. | |
Alles war besser: Zu anderen Zeiten. Jetzt muss man Passagiere und Gepäck | |
in Nischen schieben, um halbwegs durchzukommen. Die Ersten setzen sich in | |
die Gänge, behalten die Rucksäcke auf dem Rücken. Bahnhof Bitterfeld: | |
Leichter Schneefall. Es bleibt nichts liegen, der Winter malt nichts schön. | |
Auf dem Bahnsteig schließlich hasten die Passagiere, manche haben ein | |
Reißen im Blick, es fehlt nur, dass sie die Zähne fletschen. Rollkoffer | |
werden geschickt als Blockadehilfe genutzt. Man kann auf den Gedanken | |
kommen, trotz des Tickets zweiter Klasse, in die erste Klasse einzusteigen. | |
## Barrikaden aus Gepäck | |
„Das ist hier. Die.Erste.Klasse!“ Sagt einer im grau geringelten | |
Fleecepullover und streckt die Beine weit von sich. Sieht nicht so aus, als | |
führe er häufiger in dieser Preislage. Er sagt den Satz aber zu jedem, der | |
sich hinsetzt. | |
„Meine Damen und Herren, beachten Sie bitte folgende Durchsage.“ | |
Zeitberechnung der Bahn, Versuch einer Übersetzung: Fünf Minuten bedeuten | |
so viel wie „bald“; zehn Minuten in etwa: „Wird eine Weile dauern, machen | |
Sie es sich bequem.“ 15 Minuten heißen: „Wir wissen wirklich nicht, wie es | |
weitergeht.“ Es schneit nicht mehr in Bitterfeld. | |
Ein Gerücht geht um, schwappt aus dem Speisewagen bis nach hinten, ins | |
bessere Abteil: Rollstuhlfahrer wollen einsteigen. Jemand stöhnt. | |
„Meine Damen und Herren, beachten Sie bitte folgende Durchsage.“ Nach 45 | |
Minuten in Bitterfeld hat sich eine seltsame Stimmung ausgebreitet. Niemand | |
sagt: „Lasst den Rollstuhlfahrer doch dort, nimmt er eben den nächsten | |
Zug.“ Aber bei einigen knackt es im Anstandsgebälk. Die Feuerwehr muss | |
kommen, sagt die Durchsage, das Lachen wird bitter. Die Feuerwehr kommt, | |
einer trägt einen langen Bolzenschneider. Die Durchsage klammert sich an 10 | |
Minuten. Vom Speisewagen her dringen laute Männerstimmen. | |
## Über Nacht in Wuppertal | |
Im Wagon wimmelt es von Menschen, die grundsätzlich nur in havarierten | |
Zügen erscheinen. Sie erzählen laut von Städten, aus denen sie nie mehr | |
herauskamen, in denen Messen alle Hotelräume und Leihwagen beschlagnahmt | |
hatten. Solche Menschen mussten dann in Wuppertal übernachten. | |
Schließlich saust ein schwerer E-Rollstuhl mit einer Frau nach vorn, | |
Feuerwehrmänner hinterher. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Das | |
Gefühl des Vorwärtskommens, die Idee etwas zu erreichen, besänftigt die | |
Stimmung. Der Geräuschpegel sinkt. Im Speisewagen steht ein Mann hinter der | |
Theke. Er hat einen prächtigen Schnauzbart und blickt traurig: Wir haben | |
eine Gelegenheit verpasst. Wir waren ein Flashmob und wussten es nicht. Wir | |
hätten ein kleines Fest feiern können. In Bitterfeld. | |
20 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Lennart Laberenz | |
## TAGS | |
Winter | |
ICE | |
Deutsche Bahn | |
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