# taz.de -- Von der Scham des Kaufens: Etwas gegen Bezahlung erwerben | |
> Kaufen ist heute etwas so Beiläufiges wie atmen, essen und gehen. | |
> Gleichzeitig verschwindet das Wort aus unserem Vokabular, als wäre es | |
> unanständig. | |
Bild: Wir werden nicht bedient, sondern bedienen eine Maschine und uns selbst: … | |
Meine Mutter zum Beispiel. Ihr Kaufverhalten hat etwas rührend | |
Altmodisches, sie ist als Arbeiterkind in der Nachkriegszeit aufgewachsen | |
und konsumiert anders als ich. Zwei- oder dreimal in der Woche geht sie | |
groß einkaufen und versorgt sich mit allem Lebensnotwendigen. Wenn sie | |
länger unterwegs ist, schmiert sie sich eine Stulle, packt sie in eine | |
Brotdose und nimmt sie als Proviant mit. | |
Ein einziges Mal hat sie sich Kaffee in einem Pappbecher mitgenommen, weil | |
sie das immer im Fernsehen sieht. Es ist bei diesem einen Versuch | |
geblieben. Sie kann sich damit nicht anfreunden. Es passt nicht in ihr | |
Konzept von Konsum. Konsum ist für sie nichts Beiläufiges, | |
Selbstverständliches, sondern etwas, dem sie Aufmerksamkeit widmet. Keine | |
Hilfshandlung, sondern eine Handlung, die für sich steht. | |
Sie würde nie sagen, sie habe etwas „geholt“, wenn sie etwas gekauft hat. | |
So wie man das heute tut, so wie man heute das Wort „kaufen“ aus seinem | |
Vokabular verschwinden lässt. Als wäre es etwas Unanständiges. An seine | |
Stelle treten Euphemismen. Wörter, die verschleiern, was offengelegt wird, | |
wenn wir „kaufen“ sagen. Die frei sind von allen unangenehmen Gedanken, die | |
wir haben könnten, wenn wir von „kaufen“ sprechen. | |
## Bestellen, anschaffen, holen, liefern lassen | |
Gerade, wenn wir jung sind, eigentlich wenig Geld haben und unsere nicht | |
wirklich riskante Armut zum Coolness-Faktor erheben, schaffen wir uns | |
verschämt etwas an, manchmal leisten wir uns sogar etwas. Wir bestellen, | |
lassen uns etwas liefern oder kommen. Wir sagen: „Ich werde mir das holen“ | |
oder „Ich habe das mitgenommen“. Dabei wird ständig und überall gekauft. | |
Ladenöffnungszeiten? Fast immer. Und für die Stunden dazwischen gibt’s | |
Automaten. | |
Parkscheinautomaten. Kaugummiautomaten. Kondomautomaten. | |
Briefmarkenautomaten. Zigarettenautomaten. Getränkeautomaten. | |
Ticketautomaten. Automaten, aus denen man getragene Schulmädchen-Unterhosen | |
ziehen kann und Automaten, die Steinofenpizza backen. In drei Minuten. An | |
Automaten kaufen wir nicht, an Automaten drücken wir Knöpfe. Wir werden | |
nicht bedient, sondern bedienen eine Maschine und uns selbst. | |
Automaten sind Regale, die mitten in der Stadt stehen. Wir bewegen uns | |
durch den öffentlichen Raum, als wäre er unsere Wohnung. Alles, was wir | |
sehen, gehört uns. Keine Mauer trennt uns von unseren Begehrlichkeiten. Sie | |
sind unbewacht. Auch wir sind unbewacht, kein kritischer Blick mustert uns, | |
wenn wir etwas Ungesundes, unvernünftig Teures oder anderweitig | |
Fragwürdiges kaufen. Unsere Wünsche drängen nackt an uns heran. | |
## Jeden Tag und vierundzwanzig Stunden | |
Der Kaufakt, den moralische Hemmungen verhindern könnten, muss also | |
automatisch ablaufen. Kaugummiautomaten für naschende Schulkinder. | |
Spielautomaten für Einsame. Zigarettenautomaten zur Pflege des routinierten | |
Verlusts an Selbstkontrolle. Aber bitte jetzt sofort, und bitte jeden Tag | |
vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Auch an Weihnachten und | |
Silvester. Ganz besonders dann. Jeder kann sich etwas nehmen. | |
Wann habe ich zuletzt Geld abgehoben? Ich weiß es nicht mehr. Meine Bank | |
hat keine Filialen. Ich ziehe das Geld aus Automaten. Ich unterschreibe | |
Kreditkartenquittungen oder mache Dinge mit meinem Laptop, die sich auch | |
nicht anders anfühlen, als E-Mails zu verschicken. Dann wandert mein Geld | |
von mir zu denen. | |
Das Geld wandert, das weiß ich. Aber welche Wege nimmt es? Ich spüre seine | |
Anwesenheit, ich spüre seine Abwesenheit, aber ich sehe es nicht. Später | |
bekomme ich Pakete, oder aber Dateien, die mich berechtigen, irgendwann | |
irgendetwas zu tun. Das Kaufen ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. | |
Wir atmen, wir essen, wir gehen, wir kaufen. Wir sind privat, wenn wir uns | |
in der Öffentlichkeit bewegen, wir sind öffentlich, wenn wir uns im | |
privaten Raum bewegen. | |
Das Einkaufszentrum in der Stadt meiner Kindheit hieß Kaufhof. Den Kaufhof | |
gibt es mittlerweile nicht mehr, das neue Einkaufszentrum trägt den | |
sinnfreien Namen „Varena“. Wir verdrängen den Kaufakt aus der Sprache. Und | |
wenn wir ihn nicht negieren, machen wir ihn so überdeutlich, dass wir ihn | |
wenigstens romantisieren können. Kaufen geht nur noch mit Ironie. | |
## Der Mantel kam mit einer Karte. Handgeschrieben | |
Ein Berliner Modeversand heißt „Kauf dich glücklich“. Letzten Winter habe | |
ich dort einen Mantel bestellt. Keinen ironischen Mantel, sondern einen, | |
der gut aussieht und mich wärmt. Der kam mit einer handgeschriebenen | |
Postkarte, auf der stand: „Lieber Andreas, ich hoffe, dass du viel Freude | |
mit deinem neuen Mantel hast! Herzliche Grüße nach Wien, Vanessa“. Ich war | |
peinlich berührt. Warum war so eine freundliche Postkarte im Paket? Ich | |
kenne die nicht, die kennt mich nicht. So hat die Nettigkeit keine | |
Bedeutung. Sie ist nicht persönlich gemeint. Ich wollte mir keine Freunde | |
kaufen und kein gutes Gefühl. Nur einen Mantel. | |
Das „Kaufhaus des Westens“ ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Heute | |
wollen wir nicht mehr den Westen kaufen. Was wir kaufen wollen, liegt ganz | |
nah bei uns. Eigentlich ist das unser Glück. Aber Glück kann man nicht | |
kaufen, das wissen wir. Also nennt sich der Modeversand „Kauf dich | |
glücklich“. Das zeigt uns, dass die das auch wissen. Und dann dürfen sie | |
auch versuchen, uns ein bisschen Glück zu verkaufen. Sie tun mal so, als ob | |
sie könnten. Es ist ein Spiel, nicht ernst gemeint. Du wirst trotzdem etwas | |
glücklicher? Cool! | |
Wir sagen nicht mehr kaufen, weil wir nicht mehr kaufen wollen. Uns ist | |
schon klar, dass Werbung keine Produkte verkauft, sondern Gefühle. Es ist | |
uns auch klar, dass wir eigentlich Gefühle wollen. Also schämen wir uns, | |
wenn Geld fließt. Wie ein Freier, der eine Prostituierte für Sex bezahlt, | |
aber auf Liebe hofft. | |
Eine Baumwolltasche mit dem „Kauf dich glücklich“-Logo war auch im Paket | |
mit dem Mantel. Die habe ich meiner Mitbewohnerin geschenkt. Sie hat sich | |
darüber gefreut und findet sie völlig ironiefrei gut. Sie ist sehr | |
diszipliniert. Wenn sie sich etwas kauft, weiß sie, was sie dafür getan | |
hat. Es macht sie glücklich, das erreicht zu haben, was sie wollte. Daher | |
ist Kaufen für sie in Ordnung. | |
9 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Andreas Kiener | |
## TAGS | |
Konsumverhalten | |
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Versandhandel | |
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