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# taz.de -- Foto-Ausstellung Dijkstra: Mutmaßungen über Picasso
> Jungs und Mädchen im Club – damit wurde Rineke Dijkstra bekannt. „The
> Krazy House“ heißt die Ausstellung der Fotografin in Frankfurt.
Bild: Eine bildungsbürgerliche Übung: Kinder sehen Picasso. Video-Installatio…
Kustoden, Kritiker, Historiker, Museumsbesucher – jeder fragt nach den
genuinen Motiven von Künstlern und Künstlerinnen. Warum? Was? Wie? Auch
wenn die professionellen Interpreten die Definitionsmacht der Kunst
beanspruchen, ist jeder Laie dazu aufgerufen, sich ein Bild zu machen,
seine Meinung und seine Empfindungen gültig auszudrücken. Kinder sind darin
besonders kreativ. Wenn sie sich auf Kunst einlassen, erfahren Kunstwerke
eine mitunter sehr vitale Interpretation.
Rineke Dijkstra filmte 2009 eine Liverpooler Schulklasse mit Schülern im
Alter von etwa 9 bis 11 Jahren, während die Gruppe ein Bild von Picasso
betrachtet und Mutmaßungen über dessen Bedeutung anstellt. Die „Weinende
Frau“ von 1937 selbst zeigt Dijkstras Film „I see a Woman Crying“, Teil
einer Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt (MMK), nicht.
Wir sehen die Kinder auf drei nebeneinander projizierten Videosequenzen.
Abwechselnd spricht jeder Einzelne darüber, was er oder sie sieht: „… viele
bunte Flächen, ein Gesicht, das in der Mitte gespiegelt wird, oder eine
weinende Frau“. Allmählich beginnt die Anschauung in Interpretation
umzuschlagen. Warum weint die Frau? „Weil sie viel Geld hat und deshalb
niemand sie mag, weil ihr Mann im Krieg ist, weil sie bei ihrer Hochzeit
den Kuchen geklaut hat und jetzt bestraft wird, nein, weil sie einen Geist
gesehen hat oder weil sie selbst ein Geist ist, der nun zurückkehrt aus dem
Reich der Toten.“
## Jede Interpretation ist ein Selbstbild des Interpreten
Von dem Warum gleiten die Kinder über in das Wie, denken über die formale
Ebene nach. Und finden erstaunlich schnell eine schlüssige Formel für den
Kubismus: Es geht nicht so sehr darum zu zeigen, was sichtbar ist, sondern
um die Darstellung eines inneren Zustands. Das Ganze wird so schnell und
assoziativ in wilden und fantastischen Kaskaden vorgebracht, dass dieses
Stakkato einen nur staunen lässt.
Klar wird auch: Jede Interpretation ist auch ein Selbstbild des
Interpreten. Diese Freiheit gibt es ausschließlich im Museum.
Naturwissenschaftlicher Unterricht sieht anders aus. Nur der vermeintlich
weiche Faktor Kunst darf so gedehnt und spekulativ überformt werden.
Im selben Raum projiziert Rineke Dijkstra zeitversetzt ein in seiner
Schuluniform am Boden sitzendes Mädchen („Ruth Drawing Picasso“, 2009). Die
Beine gerade ausgestreckt, bemüht es sich, eine Kopie von Picassos Bild
anzufertigen. Eine stille und überzeugende Videoarbeit, denn lediglich der
konzentrierte Blick fesselt die Aufmerksamkeit und das Geräusch der über
das Papier kratzenden Buntstifte. Wir werden Zeuge des großen pädagogischen
Projekts der visuellen und kulturellen Bildung: sehen, verstehen und dann
doch wieder abmalen.
## Das doppelte Spiel
Weil kulturelle Bildung aber noch lange keine Kunst ist, betreibt auch
Dijkstra ein gekonnt doppeltes Spiel und verkoppelt ihre bisherigen
Arbeiten mit einem Produkt der Hochkultur, das unter dem Label Klassiker
firmiert. Eine kluge Reflexion über die Durchdringung, Konstruktion und
Besetzung des Kultur- und Kunstbegriffs. Wie in ihren fotografischen
Arbeiten tritt auch hier deutlich die individuelle Aneignung in Kontrast
zur offiziellen gesellschaftlichen Konvention.
Seit mehr als zwanzig Jahren porträtiert die niederländische Künstlerin
meist junge Menschen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die
Entwicklungsstadien und individuellen Zeitläufe sind mal in einzelnen
Porträts fixiert und dann wieder in Serien. Jede persönliche Entwicklung
ist eingebettet in die Regelwerke der Gesellschaft. Wie massiv dieser
Einfluss ist, hängt nicht ausschließlich vom Willen eines Einzelnen ab,
sondern wird gleichermaßen von sozialen, politischen oder ökonomischen
Vorgaben bestimmt.
Doch Rineke Dijkstra spricht weder explizit über das eine noch über das
andere. Sie zeigt keine sozialen Kontexte und zeichnet keine Psychogramme.
Die fast immer gleiche Distanz beim Fotografieren schließt eine intime
Nahsicht aus. In vielen Bildern manifestiert sich ein beeindruckender Blick
auf die Physiognomie der Porträtierten. Diese Bilder sind schlicht und
schön.
Ihr Erfolg begründet sich in ihrer Offenheit und dem leicht zu verklärenden
Sujet der Jugend. Zumal dem Genre Porträtfotografie fast jeder Betrachter
mit einem Gefühl der Kompetenz gegenübertritt, denn im Spiegel eines
anderen Antlitzes finden sich immer existenzielle Bezüge zum Selbst.
## Über Jahre hinweg
Dass im MMK der Fokus auf die Videoarbeiten gelegt wird, ist sicher eine
gute Entscheidung, standen diese doch bisher selten im Mittelpunkt des
Interesses. Aber es wird auch deutlich, dass nicht alle die gleiche
Qualität haben. „Ruth Drawing Picasso“ und „I see a Woman Crying“ sind
Ausnahmen. Gerade die viel gefeierte Arbeit „The Buzz Club/Mystery World“
(1996–97) oder die Produktionen „The Power House“ (2007–08) und „The
Krazyhouse“ (2009) verlieren sich in einer banalen Phänomenologie.
Die rhythmischen Verrenkungen der Teenager im Club sind weder Sittenbild
noch Studie, sondern nur langweiliger Voyeurismus. Zu diesen Arbeiten will
man nicht zurückkehren, weil sie nichts erzählen. Anders die Fotografien,
die ebenfalls mit „The Buzz Club“ und „The Krazyhouse“ betitelt sind. D…
Fotografien besitzen Finesse, Präzision und Eigensinn. Diese Bilder kann
man auch über Jahre hinweg betrachten, und sie überzeugen immer wieder.
##
27 Feb 2013
## AUTOREN
Maik Schlüter
## TAGS
Tanz
Ausstellung
Pablo Picasso
Fotografie
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