# taz.de -- Grenzkonflikt in Zentralasien: Gefangen im Tal | |
> Die „Ural“ ist der Lastesel im Ferghanatal. Er ernährt auch die Witwe | |
> Tadschibajewa. Doch gegen Schlagbäume und Minen ist das Motorrad | |
> machtlos. | |
Bild: Ernährt Kaschibaroun Tadschibajewa mitsamt Familie: Die Motorradwerkstat… | |
FERGHANATAL taz | Die Pisten im Süden des Ferghanabeckens sind von | |
Schlaglöchern zerfressen. Hier gehört die „Ural“, in Europa ein Motorrad | |
für Enthusiasten, zu den wichtigsten Transportmitteln. Auf Schritt und | |
Tritt knattern die Motorräder durch die Hochgebirgslandschaft im Herzens | |
Zentralasiens. Entweder mit Passagier auf dem Sozius oder mit Säcken. | |
Sowjetische Ingenieure hatten das Modell in den vierziger Jahren von der | |
Wehrmachts-BMW abgekupfert. | |
Reifen, Lenkstangen, Motoren, Beiwagen liegen im Vorhof des Gehöfts in | |
Nordtadschikistan, in einem offenen Unterstand stapeln sich die | |
Ersatzteile. Ein Mann, der Schwiegersohn von Kaschibaroun Tadschibajewa, | |
schraubt an den Motorrädern, um seine Familie zu ernähren. Kaschibaroun | |
Tadschibajewa, 54 Jahre und Witwe, lebt mit einer ihrer Töchter und deren | |
Familie im Haus des verstorbenen Mannes. Um ihre anderen Töchter im Örtchen | |
Soch zu sehen, bräuchte sie nur knapp zwei Stunden. Aber sie kann sie nicht | |
mehr besuchen: Soch, ihr Geburtsort, ist eine usbekische Enklave. | |
Zwei Dekaden nach dem Zerfall der Sowjetunion ist in Zentralasien, in der | |
Region zwischen Kaspischem Meer und Chinas Grenze, die Reisefreiheit so | |
eingeschränkt wie wohl noch nie in der Geschichte des als Seidenstraße | |
bekannten Handelswegs. Der Fall der Berliner Mauer öffnete1989 zwar Europa, | |
doch in Zentralasien wuchsen zwischen benachbarten Dörfern Grenzen, | |
Stacheldraht und Minenfelder. | |
Das eingeschossige weiß-blau angestrichene Gehöft von Tadschibajewa | |
umschließt nach hinten einen gepflegten Garten, in dessen Mitte ein | |
Aprikosenbaum steht. Am Horizont glänzen die schneebedeckten Gipfel des | |
Vorpamirs. In einem mit bunten Teppichen und Kissen ausgelegten Zimmer | |
sitzt die 54-jährige Frau in einem alabasterfarbenen Kleid, einer Wollweste | |
und einen Kopftuch. Die Tadschikin schlürft heißen Tee. „Sie müssen Tee | |
trinken, dann wird es wärmer“, sagt sie. | |
## Kein Gas, kein Strom | |
Ende Januar ist der Raum feucht und kühl. Die tadschikischen Dörfer hier | |
haben schon lange kein Gas mehr und auch der Strom wird abends und morgens | |
nur für wenige Stunden zugeteilt. Geheizt wird mit Kohle, Holz und Dung und | |
meist auch nur für ein paar Stunden. | |
Usbekistan dreht regelmäßig Tadschikistan das Gas ab und schränkt die | |
Stromlieferungen ein. Die Energiekrise trifft nicht nur die tadschikische | |
Provinz, sondern selbst in der Hauptstadt Duschanbe sitzen die Einwohner | |
häufig bei Kerzenschein in eisigen Wohnungen. | |
Bei Kaschibaroun Tadschibajewa ist das Geld ohnehin knapp, die Rente nicht | |
erwähnenswert. „Sie reicht gerade für den Tee“, sagt sie und lacht, die | |
Goldzähne blitzen. Mit den Reparaturen der Motorräder komme der | |
Schwiegersohn gerade über die Runden. | |
An die Kälte hat sich Tadschibajewa gewöhnt, aber nicht daran, dass sie | |
nicht mehr ihre Töchter in Soch sehen kann. Zwischen den Gebirgshängen von | |
Tienschan und Pamir verschränken sich so viele Grenzen, als hätten die | |
verantwortlichen sowjetischen Kartografen zu tief ins Wodkaglas geschaut. | |
Tatsächlich ging es darum, eine Eigenständigkeit der zentralasiatischen | |
Staaten unmöglich zu machen. Die Unabhängigkeit der Staaten kam trotzdem. | |
Die Grenzläufe dreier Staaten verknoten sich im Ferghanatal, als wärs | |
Kabelsalat. Die Ebene gehört zu Usbekistan, sie wird im Norden und Süden | |
von zwei kirgisischen Landarmen umgriffen, und vom Süden schiebt sich | |
dazwischen noch ein tadschikischer Appendix. Und dann sind da noch die | |
Enklaven. In dem kirgisischen Südarm sind vier Landinseln eingesprengselt, | |
eine davon gehört zu Tadschikistan und die anderen, darunter Soch, die | |
Heimat von Tadschibajewa, zu Usbekistan, obwohl die Bewohner zu 99 Prozent | |
Tadschiken sind. In der Sowjetzeit störten die Grenzen niemanden. | |
Tadschibajewa aus der Enklave der usbekischen Sowjetrepublik heiratete | |
ihren Mann aus dem Dorf im Norden der tadschikischen Sowjetrepublik. Oder | |
besser, sie wurde verheiratet. "Unsere Urgroßmutter wurde schon hier in die | |
Ehe gegeben", erinnert sie sich. Unter den traditionell sesshaften | |
Tadschiken, deren Sprache mit dem Persischen verwandt ist, werden Ehen oft | |
unter entfernten Verwandten geschlossen, um die Familienbande zu stärken. | |
Wer aber nach Ehen zwischen Tadschiken aus Soch und den in den angrenzenden | |
Gebirgsdörfern lebenden Kirgisen fragt, handelt sich empörtes Kopfschütteln | |
ein. | |
## Hochzeit mit Hindernissen | |
Kurz nach der Hochzeit von Tadschibajewa zerbrach die Sowjetunion und die | |
Probleme begannen. Zwei Landesgrenzen trennten fortan die Wege, doch die | |
Familien beschlossen, die Bande aufrechtzuerhalten. Die zwei ältesten | |
Töchter von Tadschibajewa wurde nach Soch verheiratet. Weder die Töchter | |
noch ihre Mutter wurden gefragt. | |
Allein die Hochzeit war ein gewaltiger Aufwand. Die Töchter über Kirgistan | |
in die usbekische Enklave zu bekommen war schwierig. Usbekistan und | |
Tadschikistan erkennen die jeweiligen Heiratsdokumente nicht automatisch | |
an. Zudem herrscht Visumspflicht und zwischen beiden Nachbarstaaten gibt es | |
keinen Direktflug. Grenzabschnitte zwischen Usbekistan und Tadschikistan | |
sind vor allem im Norden vermint. Immer wieder sterben Bauern auf den | |
Feldern. | |
Aber die Töchter von Tadschibajewa erhielten wenigstens in der usbekischen | |
Enklave eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung. „Einige der Frauen von hier | |
leben in Soch ohne Papiere“, erklärt die Witwe. | |
Nach dem Tod ihres Mannes konnte Tadschibajewa nicht in das Elternhaus nach | |
Soch zurückkehren. Als dann 2009 noch ihr Bruder starb, durfte die Familie | |
aus dem Dorf in Nordtadschikistan die Trauerfeier in Soch nicht besuchen. | |
Die usbekischen Grenzer ließen Tadschibajewa zwar rein, aber dann sei sie | |
von der usbekischen Polizei in Soch verhaftet und ausgewiesen wurden. „Ich | |
wurde wie eine Kriminelle behandelt, nur weil ich in meine Heimat wollte.“ | |
Im Januar eskalierte der Streit um die Enklave. Hunderte Tadschiken aus | |
Soch stürmten einen kirgisischen Grenzposten, fällten die Strommasten, die | |
die Kirgisen zuvor auf dem Territorium der Enklave gesetzt hatten. Sie | |
stürmten das Grenzdorf Tscharbak, zertrümmerten Autos und nahmen etwa 30 | |
Kirgisen, auch Frauen und Kinder, als Geiseln. | |
Der Grenzstreit währt seit zwei Jahrzehnten. Er verschärft den Gegensatz | |
zwischen den im Tal eingeschlossen Tadschiken, die sich seither mehr als | |
verdoppelt haben und 60.000 Einwohner zählen, und den Kirgisen in den | |
Bergen. Es wird um alles gestritten: Wasser, Weiden und Transitwege. Und | |
der usbekische Staat, zudem die Enklave gehört, verweigert sich bisher | |
jeder Lösung. | |
## Karimow gibt der Sowjetunion die Schuld | |
Seit dem Konflikt sind die Grenzen komplett dicht. Usbekistan und Kirgistan | |
haben die Enklave blockiert. Niemand kommt mehr rein oder raus. „Jetzt | |
werde ich meine Töchter erst recht nicht mehr sehen können“, fürchtet | |
Tadschibajewa. Früher hätten sie sich wenigstens hin und wieder getroffen. | |
Der usbekische Präsident Islam Karimow schob in einer Ansprache im | |
Parlament im Januar die Schuld für den Konflikt auf die Sowjetunion. Der | |
autokratische Herrscher erwähnte nicht, dass es die Regierungen in | |
Zentralasien in zwanzig Jahren nicht geschafft haben, eine Lösung zu | |
finden. | |
Im Gegenteil - die regionalen Gegensätze nehmen zu, und der seit 1989 | |
herrschende Karimow raunte im Sommer 2012 sogar von "Kriegsgefahr". Die | |
Staaten schalten sich gegenseitig die Stromzufuhr ab, schließen Grenzen und | |
erschweren den Menschen das Leben. „Die ungelösten Probleme um die Enklave | |
bergen in sich alle Ingredienzien für weitere Eskalationen in | |
Zentralasien“, warnt die Expertin der International Crisis Group, Deirdre | |
Tynan in Bischkek. Dabei soll durch die Region der Rückzug der Nato-Truppen | |
aus Afghanistan verlaufen. | |
## Schmuggel mit Benzin und Zement | |
Politik interessiert Tadschibajewa nicht, sie will nur ihre Familie sehen | |
und manchmal den Basar besuchen. Der liegt in Voruch. Das gehört zu | |
Tadschikistan, doch um dort hinzukommen, muss der tadschikische Reisende | |
zweimal kirgisische Landstreifen passieren. Noch ist der Weg offen und ein | |
Eldorado für Schmuggler. In Tadschikistan sind Benzin und Zement teurer, | |
und so verkaufen die Kirgisen an wilden Tankstellen im Niemandsland aus | |
Einmachgläsern den Treibstoff und den Zement direkt vom Lkw. | |
Hin und wieder nimmt der Schwiegersohn Tadschibajewa auf seiner "Ural" mit | |
zum Wochenmarkt. Stoffe aus Usbekistan gibt es da, Baumwolle und Fisch und | |
greller Plastikkram aus China. Voruch liegt malerisch in einer | |
Gebirgsfalte, umgeben von Aprikosenplantagen. Doch auch hier wächst die | |
Aggression zwischen Tadschiken in der Enklave und den Kirgisen im Umland. | |
Regelmäßig kommt es zu Schlägereien. Kirgistan plant, auch diese Grenze mit | |
Stacheldraht zu markieren und Posten zu errichten. | |
Bald schon könnten die Marktausflüge von Tadschibajewa auf dem Sozius der | |
unverwüstlichen „Ural“ zwar nicht von Schlaglöchern, dafür aber von Gren… | |
eingeschränkt werden. | |
1 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Marcus Bensmann | |
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