# taz.de -- Die Wahrheit: Armani, Reichani | |
> Eine neue Bewegung aus den USA wendet sich gegen die Diskriminierung und | |
> Stigmatisierung finanziell Schwacher. | |
Bild: Der Wirkmächtigkeit des Reichtums soll die reichhaltige Erfahrung der Ar… | |
„Nicht meine Aldi-Tüte!“, grollt der empörte Rentner im fleckigen Mantel | |
und entreißt der jungen Frau den blau-weißen Plastikbeutel. Es folgt ein | |
Handgemenge. Mit blutiger Nase zieht der ältere Herr samt seiner Aldi-Tüte | |
schließlich ab. „Der Alte hat überhaupt nichts kapiert“, erregt sich die | |
Aktivistin an ihrem Info-Stand direkt vor der Aldi-Filiale auf der | |
Neuköllner Sonnenallee. „Aldi-Tüten töten! Sie stigmatisieren und grenzen | |
aus. Hier an unserem Stand kann man die diskriminierende Tüte abgeben und | |
gegen einen neutralen Beutel tauschen.“ | |
Plötzlich waren sie da. Auf Bahnhofsvorplätzen, in Fußgängerzonen, vor | |
Discounter-Märkten und Bürgerämtern: junge Aktivisten in dunklen T-Shirts | |
mit der Aufschrift „POPE“. POPE steht nicht etwa für eine christliche | |
Papst-Fangruppe, sondern für „People of Poverty Experience“ und bedeutet so | |
viel wie „Menschen mit Armutserfahrung“. In den USA hat die in den | |
neunziger Jahren entstandene Bewegung der People of Poverty Experience | |
mittlerweile großen Einfluss an Universitäten und in der Politik. Armut | |
begreifen die „Popistas“, wie sich selbst auch gern nennen, weniger als | |
einen Zustand denn als eine Erfahrung. | |
„Niemand ist arm, nur weil er arm lebt. Wir begreifen Armut als eine | |
flüssige Erfahrung, die jemand im Laufe seines Lebens machen und die | |
durchaus wertvoll sein kann. Es geht darum, unsere Wahrnehmung der als arm | |
Bezeichneten zu verändern“, erläutert Serena Duskati, Professorin für | |
Rhetorik und Poverty Experience Studies in Berkeley, die Ideen von POPE. | |
Die 26-jährige Duskati ist der unbestrittene Star am Himmel der | |
POPE-Theorie-Szene. Sie geht, wie es in ihrem populären Werk „Poping the | |
Poor“ heißt, von „der Annahme der Wirkmächtigkeit des Armutsdiskurses und | |
der performativen Kraft des Sprechens über die sogenannten Armen aus“. Das | |
Magazin New Yorker kürte die Theoretikerin kürzlich zum „Upcoming | |
Philospher of the Year“. | |
Duskati weiß, wovon sie spricht. Sie hat selbst einige Monate in einem | |
Wohnwagendorf gelebt. Dort ist auch ihre bahnbrechende Habilitationsschrift | |
über „Arm-Seins-Erfahrungen und ihre Verflüssigung“ entstanden. Der stramm | |
rechte republikanische Abgeordnete Ted Atkins höhnte bereits, die einzige | |
Verflüssigung von Armut, die er kenne, höre auf den Namen Jim Beam. | |
Aber auch in der Linken ist Duskati nicht unumstritten, zählt sie doch zu | |
den schärfsten Kritikern von Präsident Barack Obamas Gesundheitsreform. In | |
einem aufsehenerregenden Interview mit dem Magazin Newsweek bezeichnete sie | |
die Gesundheitsreform als das „diskriminierendste Unterfangen in den USA | |
seit dem Ende der Sklaverei“. In einem Akt karitativen Wahnsinns würden auf | |
unerträgliche Art und Weise Alter, Krankheit und Armut in einen | |
Zusammenhang gestellt, der so gar nicht existiere. „Obamas Gesundheitskasse | |
zementiert das Klischee von Armut. Menschen mit Armutserfahrungen sind in | |
der Regel weder alt noch krank.“ | |
In Deutschland argumentieren die Popistas vergleichsweise moderat. Hier ist | |
es nur eine kleine Minderheit, die jegliche Sozialsysteme als ausgrenzend | |
und entmündigend ablehnt. Die Mehrheit der deutschen POPE konzentriert sich | |
auf die Entdiskriminierung der Sprache. Eine Forschungsgruppe der Poverty | |
Experience Studies am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft in | |
Bielefeld erarbeitet derzeit eine Liste deutschsprachiger Autoren, deren | |
Werke als besonders diskriminierend einzustufen sind. Ganz oben auf der | |
Liste der zu bereinigenden Werke stehen die Werke von Georg Büchner und | |
Bertolt Brecht. So soll Brechts Vierzeiler „Armer Mann und reicher Mann / | |
standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht | |
arm, wärst du nicht reich“ aus den Schulbüchern getilgt werden, weil er | |
Arme in der direkten Konfrontation mit dem Reichtum stigmatisiere. | |
Auch die Medien müssten sensibilisiert werden. So fordern die Aktivisten | |
eine einkommensneutrale Werbung, in der Menschen mit Armutserfahrung nicht | |
länger ausgesondert würden. Begriffe und Slogans wie „Schnäppchen“ oder | |
„auch für den kleinen Geldbeutel“ lehnen sie genauso ab wie die Aussage | |
„für gehobene Ansprüche“. | |
Die Billiglebensmittelkette Aldi hat bereits angekündigt, Slogans wie | |
„Qualität ganz oben, Preis ganz unten“ abzuschaffen. Ein Trend, der Schule | |
machen könnte. Nur der Modehersteller Armani weigert sich beharrlich, | |
seinen Namen in Reichani zu ändern. | |
2 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Anne Kreby | |
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