# taz.de -- Die Wahrheit: Milliarden Nadeln | |
> In den Wäldern beginnt auch in diesem Jahr wieder die große Zählung. Bei | |
> der Bundeswaldinventur 2013 wird überprüft, ob noch alle Bäume da sind. | |
Bild: Nach wie vor sind ein Viertel aller Fichten krank. Krank vor Sehnsucht na… | |
Wildwuchs im unbebauten Gelände, das darf nicht sein. Es ist schon schlimm | |
genug, dass Ökoterroristen auf denkmalgeschützten Betonflächen ihre | |
ambulanten Blumenkübel aufstellen, vollkommen illegal, versteht sich. Wenn | |
dann auch noch der Wald sachlich und rechnerisch außer Kontrolle gerät, | |
steht das Land kurz vor der Anarchie. Deshalb werden alle zehn Jahre weder | |
Kosten noch Mühen gescheut, um eine zünftige Bundeswaldinventur | |
durchzuführen. | |
Grundlage ist der § 41a des Bundeswaldgesetzes, nicht nur unter | |
juristischen Feinschmeckern ein Insidertip. „Großrauminventur auf | |
Stichprobenbasis“, heißt es dort. Sieben Milliarden Bäume gibt es in diesem | |
Land, mehr als Menschen auf der Erde. Da kann nicht jeder machen, was er | |
will. Da müssen wir wissen, ob noch alle da sind. Nicht, dass plötzlich | |
einer fehlt. Oder eine Milliarde. | |
Es gilt die goldene Regel: Keine Buche ohne Beleg, und vom Farn bis zur | |
Tausendjährigen Eiche, vom Baumpilz bis zum Totholz wird alles erfasst, | |
wirklich alles. Diesmal hilft es nicht, bei drei auf dem Baum zu sein. Der | |
Waldmensch ist schon da. „Waldmenschen“, so nennen sich die statistischen | |
Helfer augenzwinkernd, und sie wollen es genau wissen. Anders als für | |
Menschen gibt es für Pflanzen kein Recht auf informationelle | |
Selbstbestimmung. Eine entsprechende Beschwerde von 25.000 Zirbelkiefern im | |
Jahr 2003 wurde vom Bundesverfassungsgericht gar nicht erst zugelassen. Die | |
hohen Richter in ihrem mit Zirbelkiefernholz getäfelten Plenarsaal saßen | |
das Problem einfach aus. Kurze Zeit wurde das widerborstige Wäldchen | |
brandgerodet. Nur ein Zufall? | |
Andernorts zählt man Erbsen, bei der Waldinventur sind es Fichtennadeln. 28 | |
Prozent der sieben Milliarden Bäume hierzulande sind Fichten. Je mehr | |
Fichtennadeln, desto mehr Humus, desto mehr Rote Waldameisen, desto besser | |
belüftet ist der Boden, desto mehr Fichten, desto mehr Fichtennadeln. Ein | |
ewiger Kreislauf, ein kompliziertes und sensibles Gleichgewicht, das durch | |
marodierende Wochenendspaziergänger schnell durcheinandergeraten kann. | |
Seien wir doch mal ehrlich: Wer hat nicht schon einmal gedankenlos eine | |
Fichtennadel als Souvenir mit nach Hause getragen und sich gesagt: Merkt ja | |
eh keiner. Ein fataler Irrtum, der einer der Mitauslöser für das | |
Waldsterben war. Stellen Sie sich vor, Sie sind beim Friseur, und während | |
Sie – schnipp, schnapp! – aufgehübscht werden, kriecht jemand zwischen | |
Ihren Beinen herum und sammelt Ihre Haare ein. Das nervt. Und natürlich | |
werden auch Fichten sauer, wenn man ihre Nadeln wegschleppt. Das und nicht | |
der ominöse saure Regen, der eine Erfindung von Petra Fischer und Joschka | |
Kelly war, ist der wahre Grund für das Waldsterben. Nach wie vor sind ein | |
Viertel aller Fichten krank. Krank vor Sehnsucht nach ihren verschleppten | |
Nadeln. | |
Ein weiteres großes Problem sind Schäden durch Verbiss. Verbissene | |
Baumschützer sind es, die den Förstern die Sorgenfalten auf die Stirn | |
treiben. Tag für Tag muss jemand mit der Motorsäge aus seinem Lieblingsbaum | |
herausgeschnitten werden, weil er sich tief in dessen Holz hineingemalmt | |
hat. Weil er nicht loslassen kann. Du klammerst, sagt der Baum. Aber wir | |
hören nur, wie es knarzt. | |
Fichtennadeln lassen sich relativ einfach zählen. Die liegen unbeweglich | |
auf dem Boden herum. Wie anders doch die Bäume, die hin und her huschen, | |
sich im Unterholz verstecken und mit manch bravem Forstmann ihren | |
Schabernack treiben. Das ultimative Zählgerät für den umtriebig | |
umherhüpfenden Baum ist der Bitterlichstab. Nicht, weil der Förster | |
bitterlich weint, wenn er sich wieder verzählt hat, heißt er so, sondern | |
nach seinem Erfinder, dem österreichischen Forstmann Walter Bitterlich. Der | |
wäre nicht nur beinahe 100 Jahre alt geworden, weil er sich dauernd im | |
Freien herumtrieb und Bäume zählte, er promovierte im Jahr 1948 über die | |
Winkelzählmethode und legte damit die Grundlage für das moderne | |
Waldinventurwesen. | |
Heute werden ganz andere Ansprüche an eine Waldinventur gestellt. 2013 wird | |
deshalb erstmals auch die persönliche Baumzufriedenheit erfasst. Dazu | |
gehört zum einen die Frage nach den beruflichen Zielen: Was möchtest du | |
gern werden, wenn du groß bist? A) Holzpellet, B) Billy-Regal C) | |
Vertäfelung in einem Gerichtssaal? | |
Zum anderen werden auch kulturelle Präferenzen abgefragt. Zwar wird die | |
Studie offiziell erst im Herbst vorgestellt, doch gibt es Gerüchte, dass in | |
der Rubrik Filme „Der Herr der Ringe“, genauer gesagt, Teil zwei mit den | |
Ents, ganz weit vorn liegt, dicht gefolgt von „Und ewig singen die Wälder“. | |
Freiwillige Baumpaten werden gesucht, um auf Lichtungen vorzulesen. Die | |
schönsten Lichtungen findet man – genau, in der Waldinventur 2013. | |
3 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Rob Alef | |
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