| # taz.de -- Roman „Bevor alles verschwindet“: Hier findst du deine Ruh | |
| > Annika Scheffel schwankt in „Bevor alles verschwindet“ zwischen | |
| > Totentanz, Märchen und Schauerromantik. Und sie wagt etwas. | |
| Bild: Der Ort, den der Roman nicht für einen Augenblick verlässt, bleibt name… | |
| Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum. Und unter den Lindenbaum | |
| stellt der Verantwortliche eines Tages den Schneewittchensarg. Ein | |
| gläsernes Konstrukt, in dem die Zukunft zu bewundern ist: ein See, darauf | |
| Boote und Fähren; Holzstege, auf denen Liebespaare sitzen, Schwimmer, ein | |
| Zeltplatz, eine Seilbahn. Ein Idyll. Das Dorf, in dessen Gastwirtschaft, | |
| die tatsächlich den Namen „Tore“ trägt, sich die Bewohner regelmäßig | |
| versammeln, soll verschwinden. Unter den Wassermassen des Stausees. | |
| Man zählt die letzten Monate, die letzten Wochen, die letzten Tage. Etwas | |
| wird nicht gut gehen, das weiß man gleich zu Beginn. Denn im Prolog zu | |
| „Bevor alles verschwindet“ kommt eine junge Frau namens Jula zurück an den | |
| See, unter dem ihr Dorf liegt, und nicht nur das: Jula spricht mit Jules, | |
| „mittlerweile ist er fast zehn Jahre jünger als sie“, und sagt: „Es tut … | |
| leid, dass ich weggegangen bin.“ Er ist geblieben. | |
| Annika Scheffel, geboren 1983, gehört zu den jungen deutschsprachigen | |
| Autoren, die unbedingt Beachtung verdienen. Ihr versponnener, vertrackter | |
| und doch auch leichthändiger Debütroman „Ben“, der 2010 erschien, war eine | |
| entschiedene Absage an jede Art von bräsigem Alltagsrealismus. Nun ist | |
| Scheffel mit ihrem zweiten Roman vom kleinen, beinahe ausschließlich der | |
| Lyrik verpflichteten kookbooks-Label zum Suhrkamp Verlag gewechselt. | |
| ## Ein Häuflein aufrechter Widerständler | |
| Der Ort, den der Roman nicht für einen Augenblick verlässt, bleibt | |
| namenlos. Ein Dorf mit gewachsenen Strukturen, das im Weg ist und weg muss; | |
| viele Bewohner sind bereits gegangen. Im Lauf der Romanhandlung entvölkert | |
| sich der Flecken weiter, bis nur noch ein Häuflein aufrechter Widerständler | |
| übrig geblieben ist. | |
| Scheffel konzentriert ihre Erzählung auf eine Handvoll Hauptfiguren: Martin | |
| Wacholder, genannt Wacho, der machtlose Bürgermeister, dem die Frau vor | |
| Jahrzehnten davongelaufen ist und der dem Alkohol ebenso zuneigt wie der | |
| Gewalt gegen seinen fast 30-jährigen Sohn. Greta Mallnicht, die in der | |
| Seitenkapelle der Kirche wohnt, einmal im Jahr das Kreuz auf der Spitze | |
| poliert und nur darauf wartet, dass sie endlich zu ihrem Mann auf den | |
| Friedhof kommt. Oder das Ehepaar Salamander mit den 18-jährigen Zwillingen | |
| Jula und Jules; unzertrennlich und im Dorfgetuschel selbstredend unter | |
| Inzestverdacht. | |
| Überall Verlorene, Versprengte, Sehnende, Versehrte. Selbst die Kinder sind | |
| einsam, wenn vielleicht auch nur in ihrem tieferen Wissen um die Welt, so | |
| wie die kleine, noch nicht einmal schulreife Marie, die in einer | |
| unsichtbaren Verbundenheit mit Jula und Jules und dem Bürgermeistersohn | |
| David zu einer anderen, unsichtbaren Sphäre Zugang zu haben scheint. | |
| ## Erschaffung eines Parallelkosmos | |
| Ein Totentanz also einerseits, der Roman, eine Geschichte, beseelt von | |
| Geistern der Vergangenheit und Zukunftsgespinsten, ein Märchen | |
| andererseits. Dass es Annika Scheffel auch um die Erschaffung eines | |
| Parallelkosmos geht, um das Durchstoßen vertrauter Realitätsebenen – das | |
| verraten bereits die Namen, das verrät das Ambiente. | |
| „Bevor alles verschwindet“ lässt sich auch als schauerromantische | |
| Geschichte lesen. Ein blauer Fuchs streift Tag und Nacht um die Ecken der | |
| nach und nach dem Abbruchbagger zum Opfer fallenden Häuser. Mehrere | |
| Bauarbeiter müssen sich wegen Bisswunden in die Praxis der Ärztin Clara, | |
| Maries Mutter, begeben. | |
| Steinerne Löwen erwachen zum Leben. Und ein Junge namens Milo, eine Figur | |
| zwischen allen Wahrnehmungsebenen, wird zur Projektionsfläche für David, | |
| für seine Hoffnungen, den Zwängen zu entkommen. Milo ist derjenige, der | |
| noch nie da war, aber genügt das? „Der blaue Fuchs“, so heißt es einmal, | |
| „ist einfach nur anders, ein bisschen an der Welt vorbeigeschoben.“ | |
| ## Psychische Verschiebungen | |
| So ist auch die Perspektive des Romans auf die Welt. Allein – das hilft | |
| leider nicht immer. | |
| Denn so sorgfältig die Konflikte und psychischen Verschiebungen im Schatten | |
| der stetig wachsenden Staumauer – das schleichende Zerwürfnis der | |
| Zwillinge, der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Wacho und David, die | |
| unausgesprochenen Eheprobleme zwischen Maries Eltern – inszeniert sind, so | |
| gelenkig und ohne modische Manierismen Scheffels Sprache auch daherkommen | |
| mag: sie bringt die Verhältnisse nicht zum Schweben, weil sich, anders als | |
| beispielsweise bei einem Autor wie Henning Ahrens, die Dingwelt und die | |
| Projektionswelt, das Reale und das Surreale, nicht immer zu einer | |
| selbstverständlichen Einheit fügen. | |
| Annika Scheffel wagt etwas. Das ist gut. Und keinesfalls ist „Bevor alles | |
| verschwindet“ ein missglücktes Buch. Es ist aber zu lang, die Motive | |
| verlieren dadurch an Kraft und Wirkungsmacht. Am Ende ist alles Wasser und | |
| Untergang. Und der Schluss von Wilhelm Müllers „Winterreise“-Volkslied ist | |
| Wahrheit geworden: „Nun bin ich manche Stunde / entfernt von jenem Ort, | |
| /Und immer hör ich’s rauschen: /Du fändest Ruhe dort!“ | |
| ## „Bevor alles verschwindet“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 412 Seiten, | |
| 19,95 Euro | |
| 6 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Schröder | |
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