# taz.de -- Selmin Çalışkan über Amnesty: „Den Rechtsstaat kritisieren“ | |
> Die neue AI-Deutschland-Chefin Selmin Çalışkan über ihre Herkunft aus | |
> konservativem Elternhaus, Afghanistan und den Waffenhandel. | |
Bild: Die Amnesty-Chefin will die Frauenrechte in Afghanistan beachtet sehen. | |
taz: Frau Çalışkan, welchen Akzent werden Sie als neue Deutschland-Chefin | |
von Amnesty International setzen? | |
Selmin Çalışkan: Ich möchte Amnesty gern noch internationaler machen. Die | |
zweite und dritte Generation Einwanderer soll sich von Amnesty auch | |
vertreten fühlen und bei uns vorkommen. | |
Wie wollen Sie das erreichen? | |
Anscheinend funktioniere ich als Vorbild – das wurde mir erst jüngst | |
bewusst. Meine Tochter erzählte mir, wie stolz die Mütter ihrer Freundinnen | |
– Frauen aus der gleichen Einwanderergeneration wie ich – darauf seien, | |
dass eine Deutschtürkin an der Spitze einer solch angesehenen Organisation | |
steht. Außerdem werde ich bald auch in türkischsprachigen Medien auftreten | |
und über Menschenrechte sprechen. | |
Auf Themen wie Kurdenrechte oder auf Kritik an Ministerpräsident Recep | |
Tayyip Erdogan reagiert auch die türkische Gemeinschaft in Deutschland | |
empfindlich. | |
Die türkische Gemeinschaft ist kein einheitlicher Block. Wenn überhaupt, | |
kann man von der Mehrheit der Türken in Deutschland sagen, dass sie | |
wertkonservativ sind – ein Potenzial, das übrigens CDU und CSU schon seit | |
Jahrzehnten nicht nutzen. Ich hoffe, dass wir von denen, die weniger | |
türkeiorientiert oder nationalistisch denken, manchen für Amnesty gewinnen | |
können. | |
Sie sagen, die Diskriminierung als türkisches Mädchen habe Sie zur | |
Menschenrechtsarbeit gebracht. Wenn dies bei allen so funktionierte, wäre | |
die Republik eine andere. Was gab Ihnen den Zusatzimpuls? | |
Es war die Kombination aus Ablehnung und Kampf einerseits, Förderung und | |
Verständnis andererseits. Als türkisches Mädchen aus konservativem | |
Elternhaus im nordrhein-westfälischen Düren war ich den Erwartungen und | |
Zumutungen sowohl der deutschen als auch der türkischen Gesellschaft | |
ausgesetzt. Doch haben mich etwa meine deutschen Lehrerinnen und Lehrer | |
stark gefördert, gerade auch als ich mit 16 Jahren von zu Hause weggelaufen | |
bin. Ich hatte damals schon Simone de Beauvoir und Bert Brecht gelesen. | |
Ich war nicht damit einverstanden, wie in türkischen Familien über Mädchen | |
und junge Frauen verfügt wird. Doch meine Eltern haben trotz meines | |
Eigensinns und meines rebellischen Verhaltens bald wieder zu mir gestanden. | |
Amnesty hat zuletzt auch Menschenrechtsprobleme in Deutschland kritisiert – | |
Polizeigewalt etwa, oder das „Racial Profiling“, die verdachtsunabhängigen | |
Kontrollen bei dunkelhäutigen oder anders aussehenden Menschen. Gibt es | |
einen Punkt, an dem Amnesty mit zu viel Innenpolitik Unterstützer | |
verprellt? | |
Der Rechtsstaat muss kritisiert werden, damit er einer bleibt. Vielleicht | |
werden wir künftig sogar noch mehr kritisieren müssen. Zum Beispiel, wie | |
Deutschland und die EU Flüchtlinge behandeln. In Griechenland etwa hat die | |
Euro- und Wirtschaftskrise bereits zu unhaltbaren Zuständen für Flüchtlinge | |
und Migranten geführt. Trotzdem ist unsere Stärke eben das internationale | |
Engagement als internationale Bewegung: Die klassische Einzelfallarbeit | |
unserer Mitglieder – beispielsweise der Einsatz für eine Iranerin, die eine | |
Initiative gegen Steinigung ins Leben gerufen hat – aber auch die | |
Lobbyunterstützung etwa für Frauengruppen in Afghanistan. Hier dürfen und | |
werden wir die Arbeit nicht zugunsten des innenpolitischen Engagements | |
einschränken. | |
Afghanistan ist ein Thema, mit dem man sehr gut außen- wie innenpolitisch | |
anecken kann. Amnesty hat nie „Rein nach“ oder „Raus aus“ gesagt … | |
… und wird es auch weiterhin nicht tun. Auch die NGO, für die ich früher zu | |
Afghanistan gearbeitet habe, hat das nie gesagt. Es ging und geht uns immer | |
um den Schutz der Zivilbevölkerung und den Schutz der Menschenrechte. So | |
wie es in den vergangenen zehn Jahren falsch war, die Debatte über | |
Afghanistan unter militärischem Primat zu führen, bleibt es auch beim Abzug | |
falsch, nur über Soldaten und nicht über die Rechte der AfghanInnen zu | |
reden. Wieder sitzen nur die Militärs und die Regierung am Tisch, jetzt | |
reden sie über Abzugslogistik, aber wieder fehlt die Zivilgesellschaft. | |
Wie bewerten Sie den Abzug? | |
Amnesty sagt nichts zum Sinn oder Unsinn des Abzugs. Klar ist, dass die | |
westlichen Truppen zum Teil eine sehr problematische Rolle gespielt haben, | |
weil sie wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen haben oder weil | |
sie Festgenommene an die afghanische Polizei übergeben haben, obwohl ihnen | |
dort Folter drohte. Gleichzeitig wäre sehr viel mehr | |
zivilgesellschaftlicher Aufbau möglich und nötig gewesen. Wir wissen aber | |
auch nicht, was nach einem Abzug passiert. Es kann sein, dass durch den | |
Abzug des Großteils der Isaf-Truppen nun ein weiterer grausamer, | |
jahrelanger Bürgerkrieg ausbricht. | |
Was fordern Sie also? | |
Aktuell haben wir klare Forderungen zu den Friedensverhandlungen mit den | |
Taliban: Hier dürfen die Frauenrechte nicht wegverhandelt werden. Auch darf | |
es keine Generalamnestie für US-Truppen geben, die | |
Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Genau das aber versucht | |
US-Präsident Barack Obama gerade mit dem afghanischen Präsidenten Hamid | |
Karsai auszuhandeln. Das ist ein Unding. Die Zivilbevölkerung braucht nach | |
der Amnestie für afghanische Warlords und Menschenrechtsverbrecher keine | |
weitere Amnestie für amerikanische Täter, sondern Entschädigungen und | |
Entschuldigungen, und die Täter müssen vor Gericht. | |
Kann man den deutschen Afghanistan-Einsatz menschenrechtlich im Vergleich | |
zu dem anderer Isaf-Partner bewerten? Haben die Deutschen etwas besonders | |
richtig oder besonders falsch gemacht? | |
Amnesty nimmt da kein Ranking vor. Aber in einem Punkt hat Deutschland | |
„besonders zu wenig“ gemacht. Die Deutschen genießen in Afghanistan ein | |
sehr gutes Image. Sie hätten damit wuchern können: Sie hätten den | |
Polizeiaufbau viel früher viel ernster nehmen müssen. Im Ergebnis gibt es | |
heute keine bürgernahe, sondern eine quasimilitärische Polizei, die | |
größtenteils von amerikanischen Soldaten ausgebildet wurde. An dem Punkt | |
ist die Bundesrepublik gescheitert. | |
In anderer Hinsicht arbeiten Sie mit der Bundesregierung zusammen: Ab 18. | |
März wird bei der UNO erneut über den Vertrag zur internationalen | |
Waffenhandelskontrolle, den Arms Trade Treaty (ATT), verhandelt. Warum | |
sollten die größten Rüstungsexporteure USA und Russland sich überhaupt | |
Restriktionen auferlegen? | |
Auch sie stehen unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit. Und | |
wenn sie sich schon Regeln unterwerfen, dann wollen die Staaten, dass die | |
für alle gleich sind. Dann ist von einem „level playing field“, also | |
gleichen Wettbewerbsbedingungen die Rede. Ich möchte aber auch nicht allen | |
Politikern unlautere Motive unterstellen. | |
Politiker wollen vor allem wiedergewählt werden, dazu brauchen sie offenbar | |
aber die Unterstützung der örtlichen Rüstungsindustrie. | |
Offenbar aber hat die zivilgesellschaftliche Mobilisierung doch schon | |
einiges erwirkt. Sonst wären die Verhandlungen über den | |
Waffenhandelsvertrag gar nicht erst in Gang gekommen. Amnesty hat Erfahrung | |
im Bohren dicker Bretter. Seit 20 Jahren fordern wir einen solchen Vertrag | |
und glauben, dass jetzt ein großer Schritt vorwärts möglich ist. Der | |
wichtige Unterschied zum vergangenen Jahr, als die Verhandlungen | |
scheiterten, ist: Jetzt ist Obama wiedergewählt, und er kann kein weiteres | |
Mal wiedergewählt werden. Deshalb kann er gegen die Waffen- und | |
Rüstungslobby handeln. | |
Die „goldene Regel“, die Amnesty und andere formuliert haben, lautet auch: | |
Kein Waffenkauf, wenn dadurch Armutsbekämpfung gefährdet wird. Welche | |
Waffen können dann überhaupt noch gehandelt werden? Überall gilt: Jeder | |
Dollar für einen Panzer fehlt für die Armutsbekämpfung. | |
So könnte man das verstehen. So weit gehen wir aber nicht. Es geht vor | |
allem darum, einen rechtsverbindlichen Vertrag zu haben, der | |
Waffenlieferungen verbietet, die absehbar zu schweren | |
Menschenrechtsverletzungen oder zu Kriegsverbrechen beitragen können. Die | |
Gefährdung der Armutsbekämpfung ist ein zusätzliches Kriterium. Übrigens | |
muss nicht jede Waffenlieferung die Armutsbekämpfung gefährden. Ein | |
Beispiel ist Liberia. Nach einem furchtbaren Bürgerkrieg ist es dort – auch | |
dank der Regierungschefin Ellen Johnson Sirleaf – gelungen, unkontrollierte | |
Waffen einzusammeln und eine bürgernahe Polizei aufzubauen, die natürlich | |
auch bewaffnet ist. Und eine Polizei, die die Rechte der Menschen schützt, | |
hilft ihnen auch, Wege aus der Armut zu finden. | |
8 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
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Amnesty International | |
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