# taz.de -- Der Irak zehn Jahre nach Hussein: Die verbarrikadierte Stadt | |
> Die Amerikaner sind aus dem Alltag in Bagdad spurlos verschwunden. Zurück | |
> bleiben Sprengschutzmauern – und eine religiös gespaltene Gesellschaft | |
> mit vielen Ängsten. | |
Bild: Mittlerweile Straßenfolklore: Medaillen mit dem Bild des ehemaligen Dikt… | |
BAGDAD taz | Wenn sich die Dämmerung über Bagdad senkt und der Imam die | |
Gläubigen zum Abendgebet ruft, beginnt die Abu-Hanifa-Moschee in einem | |
Lichtermeer zu leuchten. Vom Minarett und dem Uhrturm ergießen sich | |
kranzförmige weiße Lichterketten über den Innenhof; am Eingangsportal, über | |
den hohen Fensterbögen und den Ornamenten, funkeln weiße, grüne und blaue | |
Lampen. | |
Kurz nach ihrem Einmarsch in Bagdad hatten amerikanische Soldaten den | |
Uhrturm der wohl bedeutendsten sunnitischen Moschee im Irak mit einem | |
Artilleriegeschoss schwer beschädigt. In seinem Schuhladen in einer | |
staubigen Seitenstraße hat Mubarak Ibrahim ein Foto davon aufgehängt. Für | |
ihn symbolisiert diese Aufnahme alles, was er das große Desaster des Irak | |
nennt. Nichts als Unrecht und Unterdrückung hätten die Amerikaner Sunniten | |
wie ihm gebracht. | |
Einen Tag vor dem Sturz des alten Regimes am 9. April 2003 hatte Ibrahim | |
noch geglaubt, das Regime sei unbezwingbar. Ein letztes Mal tauchte Saddam | |
Hussein damals nahe der Moschee im Stadtteil Adhamiya auf und gab | |
Durchhalteparolen aus. Ganz Adhamiya sei auf den Beinen gewesen und habe | |
gejubelt, sagt er. Ibrahim war 21 Jahre alt und Soldat. Er kämpfte auch | |
dann noch gegen die Amerikaner, als Saddam längst in seinem Erdloch nahe | |
seinem Geburtsort verschwunden war. Nicht für den „großen Führer eines | |
törichten Volkes“, wie er Saddam nennt, sondern für sein Land. | |
Aus der Säule am zentralen Firdos-Platz, von der US-Marinesoldaten damals | |
die Saddam-Statue herunterrissen, ragen heute ein paar verbogene | |
Eisenstäbe. Ob am Flughafen, dem Bahnhof, an öffentlichen Plätzen oder in | |
Einrichtungen, wo immer Saddam sich dem Volk in arabischer Tracht, mit | |
Gewehr, mit Blumen oder im Gebet zeigte, ist sein Porträt den Bildern von | |
schiitischen Geistlichen gewichen. | |
Mit den Bildnissen demonstrieren die religiösen schiitischen Parteien den | |
radikalen Bruch mit der Vergangenheit, der auf jenen Apriltag vor zehn | |
Jahren folgte. An den Wahlurnen, aber auch auf der Straße, in blutigen | |
Auseinandersetzungen mit ihren sunnitischen Gegnern, haben die Schiiten den | |
Kampf um die Macht gewonnen. | |
Die Bilder der vom Saddam-Regime ermordeten Geistlichen dienen den Parteien | |
aber auch dazu, die Öffentlichkeit an die vielen schiitischen Opfer des | |
Regimes zu erinnern. Es dauert nicht lange, bis heute ein schiitischer | |
Gesprächspartner sagt: „Jahrhundertelang sahen sich die Sunniten als die | |
natürlichen Herrscher des Irak. Aber jetzt ist unsere Zeit gekommen. Nie | |
wieder werden sie uns unterdrücken und verfolgen.“ | |
## Tag göttlicher Fügung | |
Schiitische Parteien haben den 9. April mittlerweile in einen Tag | |
göttlicher Fügung umgedeutet. Saddams Sturz sei die gerechte Strafe für die | |
Hinrichtung von Mohammed Mohammed Bakir as-Sadr am selben Tag vor 23 | |
Jahren. Sadr war einer der bedeutendsten Vordenker des politischen Islam | |
unter den Schiiten und Wegbereiter der Dawa-Partei des aktuellen | |
Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki. Maliki präsentiert sich der | |
Öffentlichkeit inzwischen als der Mann, der den schiitischen Opfern des | |
Regimes Gerechtigkeit und Saddam an den Galgen gebracht hat. | |
Die Religion wird heute zur puren Machtausübung missbraucht, sagt der | |
Theaterregisseur Haithem Abdurrazak Ali. „Sie wissen, dass dies die | |
einfachste Art ist, das Volk zu kontrollieren.“ Für den Theatermann liegt | |
das Problem viel tiefer. „Die Amerikaner haben uns eine demokratische Hülle | |
gebracht“, sagt er. „Aber die alten Mentalitäten leben weiter.“ | |
Ob sunnitische oder schiitische Politiker, sie alle würden die Iraker als | |
Schafherde betrachten, die dem Schafhirten bedingungslos folgt. „Jeder | |
Politiker hat seine eigene Herde, die er in die Richtung dirigiert, die | |
seinen Interessen dient.“ Auf diese Weise werde nicht nur der | |
Konfessionalismus fortgeführt, sondern auch der autoritäre Charakter des | |
alten Regimes erneuert. | |
Zehn Jahre nach dem Regimewechsel und fünfzehn Monate nach dem endgültigen | |
Abzug der amerikanischen Truppen sind viele Hauptstädter über das | |
politische Dauergezerre frustriert. „Die Amerikaner haben uns die Freiheit | |
gebracht, wir können jetzt sagen, was wir wollen“, meint Nejat Jalil. „Wir | |
hatten so große Träume von einem guten Leben. Aber leider brachten sie uns | |
nur Konfessionalismus, ethnischen Zwist und Unsicherheit.“ | |
## Der Park als Sicherheitszone | |
Zusammen mit einer Freundin und ihren Töchtern sitzt Jalil auf einer | |
Picknickdecke im Zawra-Park, dem großen Vergnügungspark und Zoo nahe dem | |
Regierungsviertel. Hinter den Frauen dreht sich ein Riesenrad, und auf | |
einem SpaceGun kreischen Jugendliche. Vor ihnen plätschert ein | |
Springbrunnen, von einem Restaurant weht der Geruch von gegrilltem Fleisch | |
herüber. Der Park sei einer der wenigen Orte, an dem ihre Kinder sorgenfrei | |
spielen könnten, sagt Jalil. „Sobald wir hier weggehen, beginnt die Angst.“ | |
Von den Amerikanern ist außer ihrer riesigen Botschaft am Tigrisufer in der | |
grünen Zone heute nichts mehr zu sehen. Wären da nicht die vielen | |
irakischen Soldaten und Polizisten, könnte man meinen, es habe die neun | |
Jahre währende Präsenz des US-Militärs nie gegeben. Mit ihren | |
Sonnenbrillen, Knieschonern und Nachtsichtgeräten auf ihren Helmen wirken | |
die Kollegen wie Klone ihrer Trainer. | |
Statt den Amerikanern fahren jetzt die Iraker in Humvees durch die Stadt. | |
Ansonsten sind es vor allem die Sprengschutzmauern, mit denen sie der | |
Hauptstadt ihren Stempel aufgedrückt haben. In den sunnitischen Quartieren | |
versperren Barrikaden noch immer selbst kleine Seitenstraßen. | |
Zehn Jahre nach dem Sturz von Saddam und knapp sechzehn Monate nach dem | |
Abzug der letzten amerikanischen Soldaten ist noch immer nicht entschieden, | |
in welche Richtung der Irak steuern wird. Mehr Zentralismus oder | |
Föderalismus, Mehrheits- oder Einheitsregierung, mehr oder weniger Einfluss | |
der Geistlichen, freie Marktwirtschaft oder staatlicher Dirigismus? | |
Für den Historiker Saad Iskander spiegelt sich in diesen Fragen die tiefe | |
Identitätskrise seines Landes. „Seit der Staatsgründung haben sämtliche | |
Regime versucht, unserer mannigfaltigen Kultur und Gesellschaft politisch | |
und kulturell eine nationale Monokultur aufzuzwingen“, sagt Iskander. „Was | |
uns verbindet, ist die Frühgeschichte der Hochkulturen von Mesopotamien. | |
Damit wir eine moderne nationale Identität entwickeln können, müssen wir | |
akzeptieren, dass Araber, Kurden, Turkmenen, Schiiten, Sunniten und | |
Christen unterschiedliche Geschichten und Kulturen haben.“ | |
## Kritiker werden bedroht | |
Maliki ist der erste gewählte Regierungschef, der die Chance gehabt hätte, | |
den Irak dauerhafter zu stabilisieren. Noch vor einem Jahr war er zumindest | |
unter den Arabern der populärste Politiker im Land. Stattdessen schlingert | |
der Irak von einer Krise in die nächste. Systematisch hat Maliki in den | |
sieben Jahren, vor allem aber seit dem Abzug der Amerikaner fast sämtliche | |
unabhängigen Institutionen unter seine Kontrolle gebracht. | |
Wer sich beugt, wird mit Pfründen belohnt – auch Sunniten. Kritiker bedroht | |
der Regierungschef mit angeblichen Geheimdossiers über ihre Verwicklung in | |
den Terrorismus. Seit Ausbruch der sunnitischen Rebellion in Syrien hat | |
sich Maliki noch mehr eingegraben. In seinem Umkreis sieht man darin nur | |
eine weitere Episode des großen schiitisch-sunnitischen Konflikts. | |
Verschwörungstheorien über Umsturzpläne der Sunniten im Verbund mit der | |
Türkei und den Golfmonarchien machen die Runde. | |
Bunkermentalität macht sich jedoch auch unter den Sunniten breit. Sobald | |
jemand seinen Schuhladen betritt, verstummt Ibrahim. Wie viele in Adhamiya | |
hat der ehemalige Soldat Angst. Schon siebenmal hätten die | |
Sicherheitskräfte seinen Bruder festgenommen. Jeden Freitag, wenn die | |
Sunniten demonstrieren, umstellen Armee und Polizei das Viertel großräumig. | |
„Wir sind Fremde in unserem eigenen Land“, sagt Ibrahim. | |
Zehn Jahre bereits leben die Hauptstädter mit der ständigen Angst vor | |
Bombenanschlägen. Dabei haben sie feine Antennen entwickelt. Schon kurz | |
nach einem Anschlag ist es, als wäre nichts gewesen. Zum ersten Mal seit | |
zehn Jahren scheint Bagdad seinen alten Rhythmus wiedergefunden zu haben. | |
Laut hupend drehen an den Wochenenden Hochzeitskorsos ihre Runde. Bis weit | |
auf den Bürgersteig drängen sich in der Nacht die Gäste vor der berühmten | |
Eisdiele al-Fakma. Im Ausgehviertel Karrada flanieren alte und junge | |
Menschen auf der Einkaufsmeile. Eine Abendvorführung im Nationaltheater ist | |
bis auf den letzten Platz besetzt. | |
Viele freilich meinen, es sei nur eine Frage der Zeit, dass sich Schiiten | |
und Sunniten erneut bekriegen. Bis dahin wollen die meisten das Leben | |
genießen, so gut es geht. | |
9 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Inga Rogg | |
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