Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tod nach Zwangsräumung: Hilflose Suche nach den Schuldigen
> Nach dem Tod von Rosemarie F. in Berlin wird über die Verantwortung und
> ein mögliches Versagen der Behörden diskutiert. Aber es hat Hilfsangebote
> gegeben.
Bild: Trauerkundgebung nach dem Tod von Rosemarie F. in Reinickendorf.
BERLIN taz | Zoltan Grasshoff erhebt schwere Vorwürfe: Der Tod von
Rosemarie F. nur zwei Tage nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung in Berlin
sei „Mord durch die Staatsgewalt“, sagt er. Grasshoff ist der Organisator
einer kleinen privaten Obdachlosenunterkunft, er hat sich zuletzt um die
67-Jährige gekümmert.
Der Piraten-Abgeordnete Alexander Morlang sieht die SPD in der
Verantwortung: "Sozialdemokratie ist tödlich. Danke, liebe Verräter!",
[1][twittert er.] Auch viele Teilnehmer der [2][Trauerkundgebung am
Freitagabend] vor der ehemaligen Wohnung der schwerbehinderten Frau im
Berliner Bezirk Reinickendorf fragen sich: Wie konnte es zur Räumung
kommen? Warum hat ihr keine Behörde geholfen?
Im vergangenen Jahr reicht die Vermieterin von Rosemarie F. eine Klage ein,
die sie unter anderem mit nicht gezahlter Miete begründet. Zudem schaltet
die Vermieterin den Sozialpsychiatrischen Dienst ein. Das Sozialamt, von
dem Rosemarie F. eine Grundsicherung erhält, hat die Mietzahlungen
eingestellt, nachdem die Rentnerin den Kontakt zur Behörde eingestellt
hatte. Zu dem Gerichtstermin erscheint Rosemarie F. nicht, sie schickt auch
keine Entschuldigung.
Die [3][Zivilprozessordnung schreibt vor:] Wer vor Gericht nicht erscheint,
verliert den Prozess automatisch. Es ergeht ein sogenanntes
Versäumnisurteil, ohne dass das Gericht prüft, ob die von der Vermieterin
erhobenen Vorwürfe überhaupt richtig sind. Gegen das Versäumnisurteil kann
Rosemarie F. innerhalb von zwei Wochen Einspruch einlegen, damit das
Verfahren neu aufgerollt wird. Sie verpasst den Termin.
## Den Überblick verloren
Am 21. November 2012 hält Rosemarie F. von der Gerichtsvollzieherin die
Mitteilung über die Räumung. Sie nimmt sich einen Anwalt, der dem Gericht
mitteilt, Rosemarie F. habe von dem Verfahren bisher nichts gewusst, weil
sie ihre Post nicht geöffnet habe. Das kommt immer wieder vor bei Personen,
die überfordert sind und den Überblick verlieren.
Doch juristisch gesehen kommt es darauf nicht an. Durch das Urteil hat die
Vermieterin das Recht, die Wohnung räumen zu lassen. Am 21. Februar dieses
Jahres haben Mitglieder [4][des Bündnisses Zwangsräumung verhindern]
gemeinsam mit Rosemarie F. einen Termin bei dem Sozialstadtrat des Bezirks
Reinickendorf, Andreas Höhne (SPD), und schildern ihm den Fall. Höhne sagt
zu, das Sozialamt werde die Mietschulden übernehmen. Seine Mitarbeiter
setzen sofort ein Schreiben auf, das dies bestätigt.
Höhne persönlich ruft die Vermieterin an. Doch die lehnt ab und besteht
weiterhin auf der Räumung der Wohnung. Jetzt geht es nur noch um den
Termin. Der Anwalt beantragt bei Gericht, die Räumung um mindestens ein
halbes Jahr zu verschieben.
[5][Laut Zivilprozessordnung] ist ein solcher Schutz möglich, wenn die
Vollstreckung „wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit
den guten Sitten nicht vereinbar ist“. Der Anwalt legt das Attest eines
Hausarztes vor. Das Amtsgericht Wedding weist den Anwalt mehrfach darauf
hin, es benötige ein Attest eines Facharztes. Zudem reiche die allgemeine
Bescheinigung über eine Erkrankung nicht aus. Ein Arzt müsse ihr
attestieren, dass durch die Räumung eine konkrete Verschlechterung ihrer
Gesundheit drohe.
Rosemarie F. lässt sich daraufhin in einem Krankenhaus untersuchen. Laut
der Einlieferungsbescheinigung „erscheint die Wohnungsräumung aus
medizinischer Sicht nicht zumutbar“. Andererseits heißt es dort auch, dass
„aktuell keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt“. Das Krankenhaus
nimmt Rosemarie F. nicht stationär auf, sondern entlässt sie wieder nach
Hause. Das Amtsgericht lehnt den Antrag, die Räumung zu verschieben, am 5.
April ab.
Der Anwalt legt am 8. April Beschwerde ein, die das Gericht am gleichen Tag
zurückweist: Rosemarie F. habe „nach wie vor kein fachärztliches Attest
vorgelegt, aus dem sich eine Räumungsunfähigkeit ergibt“. Am gleichen Tag
weist auch das Landgericht in zweiter Instanz die Beschwerde ab: Das
Krankenhaus habe Rosemarie F. „keine aktuelle Eigengefährdung bescheinigt“.
Aus den Attesten sei „nicht ersichtlich, zu welchen gravierenden
gesundheitlichen Folgen für die Schuldnerin gerade die Räumung der Wohnung
führen würde“.
## Körperlich abgebaut
Laut dem Gesundheitsstadtrat von Reinickendorf, Uwe Brockhausen (SPD), hat
der sozialpsychiatrische Dienst mehrfach versucht, Kontakt zu Rosemarie F.
aufzunehmen. Man habe es über ihren Anwalt versucht, sie direkt
angeschrieben und ihr Nachrichten an der Türe hinterlassen. Sie habe nicht
reagiert. Anfang April ist Rosemarie F. auf einer Demonstration gegen eine
Zwangsräumung im Berliner Bezirk Neukölln. Falls sie ihre Wohnung verliert,
sagt sie, werde sie sich keine neue suchen. „Nie mehr“ wolle sie vom
Sozialamt abhängig sein. „Wenn ich auf der Straße lande, hat das der Staat
zu verantworten.“
Am 9. April ist ihre eigene Zwangsräumung. 80 Protestierer sind gekommen,
150 Polizisten, eine Gerichtsvollzieherin. Rosemarie F. ist bei Bekannten.
Nach 20 Minuten sind die Schlösser ausgetauscht, damit ist der Termin
vorbei. Rosemarie F. hat keinen Zutritt mehr zu der Wohnung. Sie kommt in
der Obdachlosenunterkunft von Zoltan Grasshoff unter, baut körperlich stark
ab. Ein Spaziergang über 500 Meter dauert eine halbe Stunde, sagt
Grasshoff, währenddessen habe sich Rosemarie F. mehrmals erbrochen. Die
Einlieferung in ein Krankenhaus habe sie abgelehnt.
Am 11. April findet ein anderer Bewohner sie regungslos auf ihrem Bett.
Rosemarie F. ist tot. Der Kampf um die politische Deutung beginnt.
14 Apr 2013
## LINKS
[1] http://twitter.com/alx42/status/322661697527627777
[2] /Trauerdemo-fuer-tote-Rentnerin/!114472/
[3] http://dejure.org/gesetze/ZPO/331.html
[4] http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/
[5] http://dejure.org/gesetze/ZPO/765a.html
## AUTOREN
Sebastian Heiser
## TAGS
Zwangsräumung
Berlin
Zwangsräumung
Reinickendorf
Zwangsräumung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar Rosemarie F.: Moralische Mitverantwortung
Der Tod der zwangsgeräumten Rosemarie F. hat auch eine gesellschaftliche
Komponente. Es wäre zu einfach, die Schuld nur auf die Vermieterin zu
schieben.
Tod nach Zwangsräumung in Berlin: Nicht angemessen verhalten
Ein Gedenkmarsch für Rosemarie F. endete am Wochenende mit Ausschreitungen.
Behörden weisen Schuld am Tod der Rentnerin zurück.
Trauerdemo für tote Rentnerin: Nur die Ruhe
Nach dem Tod der Rentnerin Rosemarie F. gehen in Berlin 350 Menschen auf
die Straße. Es gibt kein Polittheater, nur Stille und Sprachlosigkeit.
Zwangsräumung in Berlin: Geräumte Rentnerin verstorben
Zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung stirbt die Reinickendorferin Rosemarie
F. in einer Kältehilfe. Unterstützer kritisieren „unmenschliches“ Vorgehe…
Widerstand gegen Zwangsräumung: Protest muss das Feld räumen
Zum zweiten Mal versuchen Linke eine Zwangsräumung in Reinickendorf zu
verhindern – diesmal vergebens. Der 67-jährigen Mieterin droht die
Obdachlosigkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.