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# taz.de -- Filmfestival in Istanbul: Tränengas vorm Traditionskino
> Beim 32. Istanbuler Filmfestival ist die Gentrifizierung der Stadt
> allgegenwärtig – der Protest dagegen auch. Die Polizei löst eine
> Demonstration brutal auf.
Bild: Istanbul – „Gentrify this“.
Man könnte meinen, sie reden von einem lokalen Fußballstar, einer
Kiezgröße, von einem von ihnen, der hier, in diesen Straßen, aufgewachsen
ist: Takafa – jeder kennt ihn, jeder weiß etwas zu erzählen. Diese
Wertschätzung markiert eine Trennlinie: Denn in den Augen vieler
zugezogener Bewohner, die sich in diesem Istanbuler Viertel ein
romantisches Leben in Altbauten mit Boheme-Kolorit versprechen, stellt
Takafa nur ein Ärgernis dar: Takafa ist ein Straßenhund.
Im gerade auf dem [1][Filmfestival in Istanbul] gezeigten Essayfilm
[2][Takafa – Stories from the Streets] erfährt man viel über das liebevolle
Verhältnis der alteingesessenen Bevölkerung zu herrenlosen Hunden, die das
Stadtbild prägen: Sie gehören zum öffentlichen Inventar, werden liebevoll
umsorgt, erhalten Essen, Wasser, Streicheleinheiten.
Sogar entführte und nach Lösegeldentrichtung freigelassene Hunde soll es
gegeben haben. Zugleich stellen die Hunde auch so etwas wie ein Symbol für
die Verdrängung eines alten Istanbuler Stadtgefühls dar: Wie sie auf den
Straßen in der Sonne dösen, sind sie nicht nur schicken Flaneuren ein Dorn
im Auge, sondern auch der Stadtplanung.
Mit der Sparte „Human Rights in Cinema“ und einem Schwerpunkt mit
Dokumentationen zu sozialen Themen formuliert das Istanbul Filmfestival
ähnlich wie die Berlinale, aus deren Programm einige Filme laufen, einen
ausgeprägt politischen Anspruch. Doch während sich die politischen
Dimensionen der Berlinale oft darauf beschränken, dass sich ein arriviertes
Publikum am von jeglicher sozialer Realität abgenabelten Potsdamer Platz
von der eigenen, guten Meinung überzeugt, setzen sich die politischen
Diskurse in Istanbul auch außerhalb des Kinosaals fast nahtlos fort.
## Ein fauler Straßenhund
Es sind nur wenige Schritte von der großen, belebten Istiklal Caddesi, der
Fußgängerzone mit einigen zentralen Festivalkinos, in der Altbauten im
Pariser Stil auf traditionelle türkische Bäckereien und hochmoderne
Shoppingcenter treffen, bis zum Tarlabasi-Boulevard, wo ein fauler
Straßenhund vor einem geradezu beeindruckenden Abrisspanorama lungert, als
wäre der Film eben noch gar nicht zu Ende gegangen.
Wo im vergangenen Jahr noch eine kaum überquerbare, vierspurige Straße das
touristische Kommerzzentrum vom verarmten Tarlabasi abschnitt, klafft nun
eine riesige, aufgerissene Wunde zwischen beiden Soziosphären. Jenseits
davon: Der organisierte, seit Jahren nicht nur in Istanbul kontrovers
diskutierte Abriss eines ganzen Quartiers, Signaturen eines sich tief in
die historische Substanz vorarbeitenden Transformationsprozesses, an dessen
Ende eine aufgehübschte Café-Gegend mit ausgetauschter Bevölkerung – noch
leben hier vor allem Kurden – stehen soll. Den stoischen Straßenhund ficht
dies – noch – nicht an.
Damit durchaus zu tun hat auch eine große Holzwand mitten in der Istiklal
Caddesi, in direkter Nachbarschaft zu den beiden Festivalkinos Atlas und
Beyoglu. Der abgeschirmte prächtige Bau aus dem 19. Jahrhundert lässt sich
dahinter nur vermuten, dafür dringt Baulärm aus dem Innern ans Ohr.
Graffiti-Parolen auf dem Holz werden offenbar im Nu von Staatskräften
übersprüht, ein Wort – „Emek“ – dringt jedoch palimpsestartig durch. …
heißt das große Istanbuler Filmtheater im barocken Stil, mit seiner
Eröffnung im Jahr 1924 fast so alt wie die Türkische Republik und auch als
traditioneller Abspielort des Filmfestivals von historischem Wert. Nun soll
es – zum Entsetzen insbesondere auch des intellektuellen Bürgertums der
Stadt – einem Einkaufszentrum weichen.
## Brutal aufgelöster Demonstrationszug
Seit Jahren formiert sich dagegen ein breiter Protest, als dessen
Fürsprecher vor allem auch das Istanbuler Filmfestival auftritt, das die
Nutzung des Gebäudes als Filmzentrum fordert.
Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste, als die Polizei vergangene Woche
einen von zahlreichen Festivalgästen, darunter von Regisseuren,
Schauspielern und Filmkritikern, unterstützten Demonstrationszug
unmittelbar vor dem Kino unter Einsatz von Tränengas brutal auflöste:
Szenen, wie man sie im Zusammenhang mit einem Filmfestival höchstens in den
bewegten späten 60ern erwartet hätte.
Regisseur [3][Costa-Gavras], kurz zuvor vom Festival für sein Lebenswerk
ausgezeichnet, zeigte sich in einer Notiz kurz nach den gewaltsamen
Zwischenfällen bestürzt. Leben und Kino, Politik und Ästhetik – beim
Filmfestival in Istanbul sind die Grenzen zwischen diesen Sphären fließend.
Von der hohen Dachterrasse des noblen Hotels nahe dem Festivalbetrieb
blicke ich in eine tiefe Baugrube, an deren Stelle im vergangenen Jahr noch
ein Haus stand. Vom Taksimplatz wehen skandierte Parolen heran, vom Baulärm
kaum überdeckt.
16 Apr 2013
## LINKS
[1] http://film.iksv.org/en
[2] http://www.frequency.com/video/takafa-stories-of-street-trailer/73322060
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Costa-Gavras
## AUTOREN
Thomas Groh
## TAGS
2013
Gentrifizierung
Schwerpunkt taz Leipzig
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