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# taz.de -- Filmfestival Istanbul: Nicht nur für die Leinwand
> Die neuen türkischen Filme beim Filmfestival Istanbul bilden eine
> Spannung ab, die womöglich charakteristisch ist für die Türkei im frühen
> 21. Jahrhundert.
Bild: Still aus „Night of Silence“.
Ein weiter Raum scheint eng, ein enger Raum scheint weit – in beiden gehen
die Menschen verloren. Auch darüber hinaus haben die zwei im nationalen
Wettbewerb des International Istanbul Film Festival gezeigten Filme, um die
es geht, im Kern miteinander zu tun.
„Night of Silence“ von Reis Çelik und „Beyond the Hill“, der Debütspi…
des Historikers Ermin Alper, verhandeln jeweils den schwer lastenden Alb
der Tradition, das Korsett althergebrachter patriarchaler Strukturen, die –
auch dies eine Gemeinsamkeit – jeweils im Off des Bildes in Gewalt münden.
Gerade so, als würden die Filme den Finger darauf legen, dass ihre Themen
das Publikum nicht nur auf der Leinwand, sondern jenseits dessen, im echten
Leben angehen. Am vergangenen Sonntag wurde Alpers Film zum Abschluss des
Festivals mit der Goldenen Tulpe ausgezeichnet.
## „Night of Silence“
Beide Filme spielen in der Provinz, fernab der pulsierenden Metropole
Istanbul, unter deren Eindrücken man noch von der belebten Fußgängerzone
Istiklal Caddesi aus die alten Festivalkinos betritt. In „Night of Silence“
kehrt ein 55-jähriger Mann nach vielen Jahren Gefängnis in sein Heimatdorf
mit zwei verfeindeten Clans zurück. Eine Zwangsehe mit einer Kindbraut soll
Versöhnung stiften.
Die folkloristisch reizvoll in Szene gesetzte Eheschließung verliert rasch
ihren dekorativen Charakter, als beide Eheleute schließlich im schlicht
funktionalen Schlafzimmer landen, mit der strengen Auflage, die Ehe zu
vollziehen. Wo der rubinrote Schleier des Mädchens auf dem Betttuch liegt,
sollen im Morgengrauen Blutspuren ihre Entjungferung bezeugen, von der der
Mann zudem das Dorf mittels zweier Pistolenschüsse aus dem Fenster in
Kenntnis setzen soll.
Nur für ein einziges Bild noch wird der Film dieses Zimmer verlassen, auch
ein Schuss wird fallen: Wohin dieser zielt, bleibt offen, erdrückend
geschlossen bleibt indessen der Raum, in dem die Kamera um die beiden bei
ihren langen Gesprächen oft viel Leere lässt. Zu zweit vereinzelt in der
Weite einer Art neuer Gefängniszelle, in der der Mann, anfangs noch
souveräner Charmeur, am Ende gebrochene Figur unter der Last tradierter
Erwartungshaltungen, nun neuerlich landet.
## „Beyond the Hill“
Als weites Gefängnis erscheint auch das atemberaubende, ohne Weiteres
westerntaugliche Landschaftspanorama in „Beyond the Hill“, in dem die Söhne
und Enkel des Gewehre schwingenden Bauern Faik oft enigmatisch
umherstreunen. Dass sie nie in das Gebiet jenseits der Hügel geraten, das
Tal nie verlassen, hat seinen Grund.
Dort sind die Feinde, die „Nomaden“, die nie ins Sichtfeld kommen,
womöglich, so ahnt man zum gallig albernen Militärmarsch, der sich
kreuzquer zu dem bis dahin von Insektensummen und Blätterrauschen
eingemantelten Film über die letzten Bilder und den Abspann legt, weil es
sie gar nicht gibt.
„Beyond the Hill“ erzählt von einer Eskalation der Waffengewalt nach innen
wie nach außen, die weniger aus einer konfrontativen Konstellation
unterschiedlicher Interessen herrührt als allein aus Ideologie im
Selbsterhitzermodus: aus Männlichkeitswahn einerseits, aus chauvinistischer
Sündenbockmentalität andererseits.
## Traditionelle Wertvorstellungen
In beiden Filmen kommt das Individuum unter die Räder traditioneller
Wertvorstellungen, ohne dass die Filme agitatorisch wirken würden: Statt
Thesen zu formulieren, bilden sie eine Spannung ab, die womöglich
charakteristisch ist für die Türkei im frühen 21. Jahrhundert und deren
geopolitische Funktion als Scharnier zwischen Europa und Asien, zwischen
dem Modernismus einer jungen Generation, die Filme wie „Night of Silence“
mit ausgiebigen „Bravo“-Rufen feiert, und dem rigorosen Konservatismus der
Erdogan-Regierung.
Eine Spannung, die vielleicht auch den Bogen schlägt zu Veli Kahramans
„Where is my Mother Tongue?“, der diese von anderer Warte aus in den Blick
nimmt: Hier sorgt sich ein alter Mann um das Fortleben seiner
Muttersprache, das ostanatolische Zazaki, das er seinen Kindern und Enkeln
wegen eines lange Zeit herrschenden Verbots nicht mit auf den Weg geben
konnte.
Auf Streifzügen durch Ankara mit dem Camcorder seiner Enkelin dokumentiert
er daher die materielle Welt samt ihren Bezeichnungen auf Türkisch und
Zaziki, um sie so auch miteinander zu versöhnen.
Folkloristische Anwandlungen sind diesem behutsamen Film gänzlich fremd:
Die Fragilität seiner quasidokumentarischen Bilder schlägt jedes Pathos
beschworener Traditionen. Durchs Videoobjektiv sieht der Mann Blumen,
Statuen, Menschen auf den Straßen und manches, was er nicht versteht. Er
macht das Beste draus, erhebt es zum Fragment, gibt ihm einen Namen, rettet
eine, seine Welt.
17 Apr 2012
## AUTOREN
Thomas Groh
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