# taz.de -- Umkämpfte Erinnerung in Polen: Warschaus neue Helden | |
> Zum 70. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands 1943 wollen katholische | |
> Polen ein neues Denkmal errichten. Diesmal für sich selbst. | |
Bild: Nazis kontrollieren Bewohner des Warschauer Ghettos. Am 19. April jährt … | |
Am 19. April soll der Warschauer Stadtteil Muranow in einem intensiven Gelb | |
erblühen. Rund um das Denkmal für die Helden des Ghettoaufstands von 1943 | |
wurden zehntausende Zwiebeln in die Erde gesteckt. Marek Edelman, einer der | |
Anführer des bewaffneten Aufstands, legte jedes Jahr am 19. April ein paar | |
Narzissen am Denkmal des Ghettoaufstands nieder. | |
Die gelben Frühlingsboten symbolisieren die Hoffnung der Aufständischen auf | |
ein Überleben des Infernos. Doch statt gemeinsam der Aufständischen und der | |
6 Millionen Holocaust-Opfer zu gedenken, sind sich christliche und jüdische | |
Polen erneut in die Haare geraten. Der Grund: Mitten im ehemaligen Ghetto | |
soll ein weiteres großes Denkmal entstehen, eines für die knapp 7.000 | |
polnischen „Gerechten unter den Völkern“. | |
Vor dem Zweiten Weltkrieg pulsierte in Muranow das jüdische Leben. 1940 | |
richteten die deutschen Besatzer hier ein „Seuchensperrgebiet“ für über | |
350.000 Warschauer Juden ein. Vom Umschlagplatz aus gingen die Transporte | |
vom Warschauer Ghetto ins nahe gelegene Vernichtungslager Treblinka ab. | |
Bis zum Frühjahr 1943 starben dort rund 300.000 Juden in den Gaskammern. | |
Doch als am 19. April 1943 die Nazis mit Panzern und Sturmtruppen ins | |
Ghetto einmarschierten, um es endgültig aufzulösen, wehrten sich die dort | |
verbliebenen 60.000 Juden. | |
Der Aufstand im Warschauer Ghetto war kein kollektiver Selbstmord, kein | |
„Sterben in Würde“, wie Nichtjuden häufig den jüdischen Widerstand in | |
Ghettos und Konzentrationslagern nennen. Dennoch sind Polens Medien in | |
diesem Jahr voll von „Selbstmord“-Artikeln. | |
## Polnische Medien über "kollektiven Selbstmord" | |
Die letzten Juden im Ghetto hätten gegen die militärisch überlegenen | |
Deutschen ohnehin keine Chance gehabt, es sei lediglich um die „Ehre“ | |
gegangen, um einen „würdevollen Tod“, ist dort zu lesen. Die Aufständisch… | |
hätten der Welt zeigen wollen, dass auch ein Jude in der Lage sei, eine | |
Waffe in der Hand zu halten, ein paar Schüsse abzugeben und dann den | |
Heldentod zu sterben. | |
Vor diesem Hintergrund erhält der Denkmalstreit neue Brisanz, denn das | |
bisherige Denkmal der Helden des Ghettoaufstands wandelt sich in der | |
Neuinterpretation zu einem Denkmal jüdischer Selbstmörder. | |
Das geplante Monument für die Judenretter im Zweiten Weltkrieg aber würde | |
zum eigentlichen Heldendenkmal im ehemaligen Ghetto. Denn von den | |
christlichen Polen wollte niemand sterben, sie riskierten vielmehr | |
todesmutig und heldenhaft ihr Leben für die verfolgten Juden. | |
## Die Neuinterpretation verzerrt die Wirklichkeit | |
Die Wirklichkeit im April 1943 indes sah so aus: Jüdische | |
Widerstandskämpfer wehren sich mit selbst gebauten Molotowcocktails und auf | |
der polnischen Seite der Ghettomauer gekauften Waffen. Auf deutscher Seite | |
gibt es etliche Tote. | |
Doch die SS-Einheiten und ukrainischen Hilfstruppen kommen wieder – mit | |
Panzern und Flammenwerfern. Auch die Luftwaffe wirft Bomben auf das Ghetto. | |
Dennoch dauert der ungleiche Kampf der 200 bis 750 Aufständischen – die | |
Schätzungen gehen auseinander – fast einen Monat. Von den christlichen | |
Warschauern aber kommt fast keine Hilfe. | |
Statt die drei Meter hohen Mauern einzureißen und so vielen Juden wie | |
möglich ein Versteck in der Millionenstadt anzubieten, tun sie nichts. | |
Angeblich wollten die Aufständischen nicht wie „Lämmer zur Schlachtbank | |
gehen“, so wie es die anderen Juden getan hätten, es sei ihnen nur um einen | |
würdevollen Tod gegangen. | |
## Gegen den romatisierenden Pathos | |
Einer der Anführer der Jüdischen Kampforganisation ZOB, der 2009 | |
verstorbene Marek Edelmann, hat dieser Darstellung immer widersprochen. Er | |
hasste das romantische Pathos und die leeren Worte von „Würde“ und „Ehre… | |
der Aufständischen. Würdevoll nämlich seien die als „Lämmer“ bezeichnet… | |
Juden gestorben. | |
Der Journalistin Hanna Krall erklärte er: „Diese Menschen gingen ruhig und | |
würdevoll. Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist | |
wesentlich schwieriger, als zu schießen. Es ist ja viel leichter, schießend | |
zu sterben, es war für uns viel leichter zu sterben als für einen Menschen, | |
der auf den Waggon zugeht und dann im Waggon fährt und dann eine Grube für | |
sich gräbt und sich dann nackt auszieht … Verstehst du das jetzt?“ | |
## Die Überlebenden wurden in Vernichtungslager verschleppt | |
Am 16. Mai 1943 dann sprengte SS-Führer und Polizei-Generalmajor Jürgen | |
Stroop die Große Synagoge und schrieb triumphierend nach Berlin: „Es gibt | |
keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr.“ Knapp 24.000 Juden waren im | |
Aufstand umgekommen. | |
Edelman überlebte nur deshalb, weil er ausnahmsweise in einem anderen | |
Bunker übernachtete und durch die Kanäle auf die polnische Seite der | |
Ghettomauer fliehen konnte. Die SS teilte daraufhin die Überlebenden im | |
Ghetto: 7.000 Juden wurden ins Vernichtungslager Treblinka geschickt, | |
weitere 42.000 in das in Südpolen gelegene Konzentrationslager Majdanek und | |
in andere Lager. | |
Mit dem Warschauer Ghettoaufstand 1943 hat das geplante | |
„Dankbarkeitsdenkmal“ für die polnischen Gerechten unter den Völkern der | |
Welt nichts zu tun. | |
In Muranow, rund um das Denkmal der Helden des Ghettoaufstands, wird der | |
Toten gedacht, derjenigen, die nicht gerettet werden konnten, die im | |
bewaffneten Kampf starben, an Hunger und Entkräftung, die bis zum Schluss | |
zivilen Widerstand leisteten. | |
## Bedrückende aktuelle Studie zur Erinnerung | |
Piotr Kadlcik, den Vorsitzenden des jüdischen Gemeindebundes in Warschau, | |
bedrückt auch das Ergebnis einer aktuellen Umfrage unter Warschauer | |
Gymnasiasten, das die Richtung der Erinnerung anzeigt. Jeder zweite | |
16-Jährige findet es demnach schlecht, wenn sich herausstellte, dass ein | |
Familienmitglied oder der Freund jüdisch wäre. | |
Erschreckend findet Kadlcik auch die Bewertung historischer Ereignisse | |
durch die Schüler. Obwohl im Zweiten Weltkrieg 90 Prozent aller polnischen | |
Juden ums Leben kamen und 10 Prozent der christlichen Polen, gibt fast die | |
Hälfte der Befragten an, dass Christen und Juden gleichermaßen unter der | |
deutschen Besatzung gelitten hätten. | |
Der unwichtigste aller Aufstände in Polen schließlich, so die | |
Oberstufenschüler, sei der Warschauer Ghettoaufstand 1943 gewesen. | |
19 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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