# taz.de -- Performing Arts im Stadttheater: "Vollkommenheit gibt's nur im Tod" | |
> Artist in Residence Alexander M. Giesche stellt mit SchauspielerInnen die | |
> Frage nach dem perfekten Menschen – und erinnert das Theater Bremen | |
> daran, dass es auch Imkerei sein sollte | |
Bild: Vier Performer proben den perfekten Menschen - in vollendeter Symmetrie. | |
taz: Herr Giesche, hatten Sie das Projekt „Der perfekte Mensch“ geplant, | |
als Sie hier anfingen? | |
Alexander M. Giesche: Überhaupt nicht. Ich arbeite ja sonst ganz anders. | |
Wie denn? | |
Meistens habe ich eine mehr oder weniger absurde Idee, die Vorstellung von | |
einer Bühnensituation – und probiere aus, was sie macht, was sich mit ihr | |
erzählen lässt. Und dabei ergibt sich auch ein Titel. | |
Also kurz vor der Premiere? | |
In einem Stadttheater funktioniert das natürlich anders. Da muss ein Jahr | |
vorher fürs Spielplanheft schon ein Name stehen, mit einem kleinen Exposé. | |
Das fiel Ihnen schwer? | |
Ich habe mich gewunden! Woher soll ich ein Jahr vorher wissen, was mich im | |
Mai 2013 umtreibt? Eine Bauprobe hatte ich zum Beispiel auch noch nie. Die | |
Räume haben sich bisher immer aus dem Bedarf heraus entwickelt. Jetzt hatte | |
ich einen Abgabetermin, bei dem muss fast alles festgelegt sein – und dann | |
hofft man, dass es sich so einlöst wie geplant. | |
Das hofft man doch immer? | |
Klar. Aber es ist schon anders, als im Rahmen des Studiums etwas zu | |
produzieren. So eine Premiere an einem Theater, das ist … | |
… belastender? | |
Momentan freue ich mich total: Die Energie stimmt, es gibt eine gute | |
Spannung – und es wird ein Publikum geben, das nicht nur aus | |
Theaterwissenschaftlern besteht: Darauf, mich mit vielen aus der freien | |
Szene über „die elitären Arschlöcher vom Stadttheater“ auszukotzen, die | |
kein Gespür für Kunst haben, hatte ich keine Lust mehr. Ich glaube, Theater | |
muss man von innen heraus verändern wollen – und mitgestalten. | |
Und das wäre, um’s ein bisschen vom Hausregisseur abzusetzen, Ihre Aufgabe | |
als „Artist in Residence“ hier? | |
Ach dieser Titel, mit dem keiner so richtig etwas anfangen kann. Aber | |
vielleicht trifft es das: Die Hierarchien in so einem Haus aufzuweichen, | |
die Rollen zu verunklaren. Ich verstehe mich ja auch nicht als Regisseur: | |
Ich bin ein Theatermacher, mich treibt eine große Leidenschaft für die | |
Bühne an. Und ich genieße es, Teil einer Theaterfamilie zu sein – was es so | |
in der freien Szene nicht gibt. Ich bekomme hier die Gelegenheit, Projekte | |
anzustoßen, von denen nicht klar ist: Ist das ernst gemeint? Darf man das? | |
Kann das funktionieren? | |
Also – neben der Perfekte-Mensch-Performance …? | |
Zum Beispiel wollen wir am Dach des Theaters Bienen ansiedeln – um etwas in | |
die Stadt ausschwärmen zu lassen, um die Möglichkeit zu schaffen, unter | |
einem Bienenschwarm über die Schwarmtheorie nachzudenken und daran zu | |
erinnern, dass der Mensch stirbt, wenn die Kultur stirbt: 8.000 Bienen, die | |
ums Haus schwirren – auch das kann Theater sein. | |
Das klappt? | |
Die Wahrheit ist: Das weiß ich nicht. Aber wenn’s nichts wird, kann ich | |
immer sagen: Ihr wusstet doch, ich habe mein Studium in Amsterdam nur | |
unterbrochen, nicht abgeschlossen, was erwartet ihr? | |
Komfortabel. | |
Das ist ein Geschenk. Und ich bin wahnsinnig froh, dass Michael Börgerding | |
mir hier diese Chance gibt, und sagt: So, jetzt mach’ hier mal deine erste | |
Arbeit mit Schauspielern – obwohl ich von Schauspielerführung nix verstehe. | |
Erst dachte ich noch: Oh, toll, endlich mal mit Schauspielern arbeiten, da | |
braucht jetzt jeder seinen großen Monolog. Aber das hatte nichts mehr mit | |
mir zu tun. Während der Arbeit habe ich denen dann das Schauspiel sozusagen | |
weggenommen. | |
Dann hätten Sie ja auch ohne Profis arbeiten können? | |
Nein. Es ist kein klassisches Schauspielprojekt geworden. Aber es ist | |
trotzdem wichtig, dass es Schauspieler performen. | |
Wegen des Themas? | |
Ja. Ich fand spannend, wie so junge SchauspielerInnen an so ein Haus kommen | |
und sich in so einem Geflecht selbst inszenieren müssen. Und das ist ja | |
etwas, was alle SchauspielerInnen ständig machen – sich selbst zu | |
inszenieren, das eigene Bild zu optimieren, das ist ihr Antrieb, aber auch | |
ihre Geißel. | |
Also erleben wir dokumentarisches, selbstreflexives Schauspielertheater? | |
Hm. Also – es geht nicht darum, alle sagen zu lassen: Owei, als | |
Schauspieler leide ich schrecklich darunter, Rollen spielen zu müssen. Das | |
wäre mir zu platt. Solche Aussagen treffen nie. | |
Aber der Titel verführt dazu? | |
Auf jeden Fall! Der ist eine riesige Moralkeule. Der hat ja auch was total | |
Faschistisches … | |
… und er beschreibt die Dynamik der Aufklärung. | |
Es weckt riesige Erwartungen. Wir sind im Laufe der Proben schon davon | |
abgekommen, das Wort Perfektion überhaupt in den Mund zu nehmen. Der Titel | |
bewirkt ohnehin, dass ich mich frage: Was ist Perfektion, ist das etwas | |
Erstrebenswertes? | |
Das heißt aber vom Setting her, dass der Messias, also der perfekte Mensch, | |
nur präsent ist als Latenzphänomen im Möglichkeitsraum der … | |
… der Demokratie …? | |
… oder der dystopischen Visionen …? | |
Spannend für mich ist, dass Perfektion, also das Vollkommene, nie zu | |
erreichen ist. Die Vollkommenheit gibt es nur im Tod. Zugleich aber handeln | |
viele Schauspieltheorien genau vom perfekten Moment und davon, eine Reihe | |
perfekter Momente herzustellen, die wir als Zuschauer vielleicht nur | |
mitbekommen, indem wir etwa – was weiß ich: indem wir eifersüchtig werden, | |
nicht auf der Bühne dabei zu sein. Und das ist, glaube ich, übertragbar: | |
diese eifersüchtige Sicht, dass es dem anderen besser geht, weil er besser | |
aussieht als ich, eloquenter ist oder reicher. Weil seine Situation | |
perfekter ist als die eigene. | |
Also die zynische Variante? | |
Das ist doch menschlich: Klar will man mehr. Wieso zynisch? | |
Naja im Sinne von Diogenes, der sagt, ein perfekter Mensch zu werden, ist | |
gut – um den Gegner zu beschämen … | |
Aber geht es uns im Theater nicht genau darum? Das würde ich mal behaupten! | |
Deswegen hocken die Zuschauer schamhaft im Dunklen …? | |
… und die Schauspieler stehen im strahlenden Licht. Bei uns ändert sich das | |
aber zum Teil: Was sie zu sprechen haben, sind eher Textflächen, auch ihre | |
Aktionen haben etwas Objekthaftes, die stehen im Raum wie die Musik oder | |
das Licht. Es geht in erster Linie darum, Zustände zu kreieren, Tableaus. | |
Und – das mögen die? | |
Ich schaue dabei jedenfalls sehr gerne zu, wie sie etwas nicht tun, was sie | |
eigentlich könnten. Das Gefühl: Ich will, aber ich kann nicht, ist ja | |
etwas, was uns vermutlich alle stark beschäftigt. | |
Und die Spielerinnen könnten, wollen aber nicht …? | |
… oder dürfen nicht: Weil von außen ein Regisseur, also ich, sagt: Nein, | |
nein, nein, weniger, ihr seid toll, wie ihr seid! Ihr seid … | |
… perfekt? | |
Ja. Bloß keine Figuren darstellen! Gerade diese Umkehrung der Perspektive | |
ermöglicht aber jedem, das auf sich zu übertragen. Mein Traum ist, die | |
Zuschauer damit aus der Passivität herauszuholen, dass sich das Ganze in | |
eine große Tanzszene auflöst – und jetzt alle auf die Bühne! Und dann endet | |
der Abend in einer großen, gemeinsamen Party. | |
Das wäre aber nur vollkommen, wenn es sich einfach so ergibt. | |
Wahrscheinlich. Ach, diese perfekten Momente! Das ist genau die Crux. | |
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10 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
Benno Schirrmeister | |
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Theater Bremen | |
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