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# taz.de -- Attentate in der Türkei: Eine Kleinstadt in Angst und Wut
> Die Anschläge spalten die Einwohner der Grenzstadt Reyhanli. Viele machen
> die türkische Regierung verantwortlich, andere die syrischen Flüchtlinge.
Bild: Tränengas gegen Demonstranten: Porteste in Reyhanli nach den Anschlägen…
REYHANLI taz | Die königsblauen Ordner stehen noch fein säuberlich im
Regal, so als habe jemand gerade sein Büro verlassen. Drum herum liegen die
Trümmer von zerborstenem Metall und Glas, auseinandergebrochenen
Schreibtischen, verbogenen Stühlen, Betonbrocken und zerstreutem Papier. Im
Eingang der Ruine seines Amtssitzes nimmt der Chef der Stadtverwaltung von
Reyhanli, Hüseyin Sanverdi, an einer Trauerzeremonie teil. Alle müssten
jetzt Ruhe bewahren, sagt er.
Am 11. Mai waren in der Kleinstadt an der syrischen Grenze zwei Autobomben
explodiert. Einen der beiden mit je rund 500 Kilogramm Sprengstoff
beladenen Minibusse zündeten die Täter vor der Stadtverwaltung. Ein
zweistöckiges Gebäude neben der Moschee gegenüber wurde so schwer
beschädigt, dass es abgerissen werden musste. 51 Tote und Dutzende von
Verletzten forderte der Terror. Damit hat der Krieg im Nachbarland nun
endgültig auch die Türkei erreicht.
Die Appelle der Regierung nach Ruhe klingen für den Elektriker Erman wie
Hohn. Verstört steht er vor dem zentralen Platz am Postamt, wo die zweite
Bombe hochging. Mit bloßen Händen hat er in den Trümmern nach Überlebenden
des Anschlags gegraben. Auf seinem Mobiltelefon hat er Bilder von den
zerfetzten und bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichen gespeichert, ein
Video zeigt Rauchwolken, Autowracks und freiwillige Helfer, die blaue
Leichensäcke nebeneinanderstapeln. Seitdem kann Erman nicht mehr schlafen.
## 25.000 Syrer sind nach Reyhanli geflohen
„Ich sitze oft bis zum Morgen wach da, weil ich die Bilder einfach nicht
vergessen kann.“ Seine Frau und seinen kleinen Sohn hat der Elektriker zu
Verwandten in eine andere Stadt geschickt. „Ich habe Angst, dass das erst
der Anfang war. Daran sind nur die Syrer schuld. Sie müssen gehen.“
Rund 25.000 Syrer haben laut Sanverdi in Reyhanli Zuflucht gefunden. Unter
den Toten befinden sich nach Angaben von syrischen Aktivisten auch elf
Syrer. Bisher hat die Polizei 17 Tatverdächtige festgenommen, unter ihnen
soll auch der Hauptverdächtige sein.
Nach vier weiteren wird gesucht. Alle sind Türken. Die eigentlichen
Drahtzieher sitzen nach Darstellung der Regierung jedoch in Damaskus. Der
syrische Auslandsgeheimdienst habe das Massaker von Reyhanli geplant, linke
Extremisten, die mit dem syrischen Despoten Baschar al-Assad unter einer
Decke steckten, hätten es ausgeführt, heißt es in Ankara.
## Tränengas gegen Demonstranten
Den Elektriker Erman überzeugt das allerdings nicht. Zusammen mit mehreren
Hundert Demonstranten zieht er am Samstagmittag in Richtung Stadtzentrum.
Ein Großaufgebot an Polizisten schneidet ihnen jedoch den Weg ab. „Die
Märtyrer sind unsterblich“, skandieren die Frauen und Männer. Am
Straßenrand und von Balkonen gibt es Beifall.
Als der Zug über Seitenstraßen schließlich das Zentrum erreicht, geht die
Polizei mit Tränengas vor. Damit wächst die Wut der Demonstranten erst
recht. „Erdogan will Freiheit für die Syrer. Aber wir dürfen nicht einmal
demonstrieren“, sagt eine Frau.
Die Bombenanschläge offenbaren das Dilemma des bisherigen Syrienkurses der
türkischen Regierung. Schon im Herbst 2011 hatte Regierungschef Recep
Tayyip Erdogan den baldigen Sturz von Assad vorausgesagt. Die Regierung
unterstützt die Opposition, syrische Kämpfer können die nur wenige
Kilometer von Reyhanli entfernte Grenze weitgehend frei passieren. Ein Ende
der Gewalt im Nachbarland ist jedoch nicht in Sicht.
## Nur eine Hügelkette trennt die Stadt von Syrien
Unter den Demonstranten sind zahlreiche eingefleischte Nationalisten. Aus
ihrer Sicht hat Erdogan den Terror von Reyhanli mit seiner harten Haltung
gegenüber Assad provoziert. „Wir hatten nie Probleme mit den Syrern“, sagt
Yussuf Demir. „Israel, die Amerikaner und die Golfaraber schüren den
Bürgerkrieg in Syrien. Sie wollen auch die Türkei zerstören und Erdogan
macht dabei mit.“
Auch er will, dass die Syrer sein Land verlassen, allen voran die Kämpfer
der Freien Syrischen Armee. „Tagsüber kämpfen sie in Syrien, nachts
schlafen sie hier. Sie sind der Grund die Anschläge“, sagt Demir.
Nur eine Hügelkette trennt Reyhanli von Syrien. Viele der gut 61.000
Einwohner lebten vom schwunghaften Handel mit dem Nachbarland, doch der ist
zum Erliegen gekommen. Dies schürt auch die sozialen Spannungen. Unter den
Einheimischen werden Vorwürfe laut, die Flüchtlinge würden ihnen als
billige Arbeitskräfte die Arbeit wegnehmen. Unmittelbar nach den Anschlägen
schlug ein wütender Mob die Scheiben von Geschäften und Autos von syrischen
Flüchtlingen ein.
## Reyhanli als Mikrokosmos des Nachbarlandes
Die Anschläge haben nicht nur die Wut auf die Flüchtlinge verstärkt und die
politischen Gräben in der Türkei vertieft. Sie schüren auch religiöse und
ethnische Spannungen in der Region. Reyhanli ist in gewisser Weise ein
Mikrokosmos des Nachbarlands. Die meisten hier sind Sunniten, unter ihnen
schätzungsweise mehr als die Hälfte Araber.
In der Provinz Hatay, zu der auch die Stadt gehört, leben jedoch auch
zahlreiche Alawiten. Viele arabische Sunniten in der Türkei unterstützen
die Aufständischen in Syrien, während viele Alawiten mit ihren
Glaubensbrüdern im Nachbarland, zu denen auch Assad gehört, solidarisch
sind.
„Was wollt ihr Alawiten?“, herrscht ein Mann eine Demonstrantin an. „Ihr
seid an allem schuld.“ Sie sei Sunnitin, schimpft die Frau und geht beinahe
auf den Mann los. Sie wolle nur der Toten gedenken und die Regierung von
ihrem falschen Weg abbringen.
## Die Regierung verstärkt die Polizei
Bürgerkrieg, lautet dieser Tage das meist gesagte Wort in Reyhanli.
Türkische Aleviten und Sunniten verdächtigen sich gegenseitig, sich darauf
vorzubereiten. Davon kann bisher keine Rede sein, und auch die Solidarität
mit den Flüchtlingen ist trotz allem Unmut nach wie vor groß. Die Regierung
hat jedoch Hunderte zusätzliche Polizisten in die Stadt verlegt.
Unter Hochdruck räumen Arbeiter die Trümmer und den Schutt in den
Bombenruinen weg. Selbst am Wochenende wird gearbeitet. So schnell wie
möglich will die Regierung die zerstörten Gebäude wieder aufbauen. Die
Schatten, die der Krieg in Syrien auf Reyhanli geworfen hat, wird sie
jedoch so bald nicht mehr los.
20 May 2013
## AUTOREN
Inga Rogg
## TAGS
Reyhanli
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan
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