# taz.de -- Bengalen in London: Die Herrschaft des Lutfur Rahman | |
> In einem Londoner Stadtteil hat eine Gruppe Bengalen die Macht | |
> übernommen. Kritiker werfen ihnen einen undemokratischen Regierungsstil | |
> vor. | |
Bild: Moschee in London: Die City wächst und die Gentrifizierung treibt die Be… | |
LONDON taz | Die Brick Lane im Londoner Stadtteil Tower Hamlets ist heute | |
vor allem bekannt für ihre vielen bengalischen Restaurants und als Ziel von | |
Hipstern, die sich in den Hallen der alten Truman-Brauerei nach Klamotten | |
umschauen. Dazwischen gibt es aber noch die kleinen Stoff- und | |
Lederhändler, die Läden für Elektrogerümpel und die bengalischen | |
Süßigkeitengeschäfte – wie jenes, in dem Samir Uddin auf Kundschaft wartet. | |
Die Geschäfte laufen schlecht, auch wenn der Bürgermeister des Stadtteils, | |
Lutfur Rahman, ab und zu persönlich bei Uddin vorbeikommt und mit ihm Tee | |
trinkt. Doch die Hoffnungen, die der Ladenbesitzer einst in den | |
bengalischstämmigen Politiker setzte, sind tiefer Enttäuschung gewichen. | |
Damit steht Uddin nicht allein da: Kaum ein Tag vergeht, an dem die | |
Londoner Presse nicht von Skandalen des autokratisch agierenden | |
Bürgermeisters und seines Stadtrats berichtet, an dem nicht von Nepotismus, | |
Wahlfälschung oder Misswirtschaft die Rede ist. | |
Die Geschehnisse in Tower Hamlets sind ein Lehrstück dafür, wie Labour in | |
einem traditionellen Arbeiterbezirk an der Aufgabe scheiterte, muslimische | |
Migranten in die Politik zu integrieren. Ein Blick zurück in die Geschichte | |
des Bezirks: Hierhin, östlich des Tower of London und der City, zogen seit | |
Ende der sechziger Jahre Tausende Einwandererfamilien aus dem früheren | |
Ost-Pakistan, das sich 1971 in einem blutigen Bürgerkrieg abspaltete und | |
Bangladesch nannte. Die Brick Lane wurde zum Zentrum der größten | |
bengalischen Gemeinde Großbritanniens, jeder Dritte hier hat bengalische | |
Vorfahren. | |
Die Moschee in der sogenannten „Banglatown“ diente zuvor bereits als Kirche | |
und Synagoge. In früheren Zeiten stellten in dieser Gegend aus Frankreich | |
geflüchtete Hugenotten ihre Webstühle auf; Iren siedelten sich an und | |
bauten den Hafen und die Docklands; später kamen jüdische Zuwanderer; 2012 | |
empfing der Stadtteil schließlich die ganze Welt zu den Olympischen | |
Spielen. | |
## Schrille, saftige Backwaren | |
Samir Uddins Vater kam Anfang der achtziger Jahre nach Tower Hamlets. Er | |
eröffnete in der Brick Lane seinen hellbläulich schimmernden Laden, in | |
dessen Theke sich schrille, saftige Backwaren aneinanderreihen. | |
Die Probleme, die Labour mit Tower Hamlets hat, sorgten bei den letzten | |
Bürgermeisterwahlen 2010 für Schlagzeilen. Lutfur Rahman – damals noch | |
Labour-Mitglied – hatte es sich in den Kopf gesetzt, als Kandidat für seine | |
Partei ins Rennen zu gehen. Die nationale Labourführung weigerte sich | |
jedoch, ihn zu nominieren, obwohl er die entsprechende örtliche Abstimmung | |
gewonnen hatte. Der Grund: Kurz zuvor waren viele Bengalen der Partei | |
beigetreten, die das Ergebnis zugunsten Rahmans kippten. Statt seiner | |
installierte die Parteispitze lieber den ursprünglich favorisierten | |
Kandidaten. | |
Rahman verließ daraufhin die Labour Party. Er sicherte sich die | |
Unterstützung der größten Moschee Londons, der East London Mosque, Heimat | |
des fundamentalistischen Netzwerks Islamic Forum of Europe (IFE). Und er | |
gewann die lokalen Wahlen. | |
Gleichzeitig lief eine ganze Gruppe bengalischstämmiger Delegierter zu ihm | |
über, die noch auf der Labour-Liste ins Stadtparlament eingezogen waren. | |
Mit einem kurzfristig anberaumten Referendum im Schatten der britischen | |
Parlamentswahlen erhielt der Posten des Bürgermeisters fast autokratische | |
Befugnisse. Obwohl die Mehrheit der Abgeordneten im Stadtparlament Labour | |
angehört, können der Bürgermeister und sein Magistrat nun an dieser nahezu | |
entmachteten Versammlung vorbeiregieren. | |
## Alle sind „unabhängig“ | |
Seitdem herrscht Rahman über Tower Hamlets mit einem Magistrat, dessen | |
Mitglieder allesamt entweder aus Bangladesch eingewandert sind oder deren | |
Vorfahren von dort kamen. Keiner gehört mehr einer Partei an, alle sind | |
„unabhängig“. | |
Auch Ladenbesitzer Samir Uddin hatte 2010 für Rahman als Bürgermeister | |
gestimmt. „Ich habe gehofft, der tut was für uns“, sagt er. Sein Geschäft | |
habe Hilfe gebrauchen können. Die City wächst und die Gentrifizierung | |
treibt die Bengalen, seine Kundschaft, immer weiter in den Osten Londons, | |
nach Newham. Falls die Stadt wie geplant die Gewerbesteuer erhöhe, müsse er | |
dichtmachen, sagt er. | |
Der Bruch zwischen Teilen der bengalischen Gemeinde und dem politischen | |
Establishment liegt allerdings schon länger zurück, mindestens zehn Jahre: | |
Gehörte die erste Generation bengalischer Zuwanderer eher säkularen linken | |
Strömungen an, begannen deren Kinder sich – vor allem nach den Anschlägen | |
vom 11. September 2001 – zunehmend als Muslime zu verstehen. Das bestehende | |
politische System hatte ihnen wenig zu bieten. Innerhalb der Labour Party | |
vertiefte der damalige Premier Tony Blair diesen Bruch, indem er an der | |
Seite von US-Präsident George W. Bush in den Irak einmarschierte. | |
Im Jahr 2005 verlor die Labour- Party den Parlamentssitz für den Stadtteil | |
Tower Hamlets an eine neu gegründete linke Splitterpartei. Es war wohl nur | |
eine Frage der Zeit, bis im Jahr 2010 die Gruppe um Lutfur Rahman ihre | |
Chance in der Kommunalpolitik witterte. | |
## Islamistische Gesellschaftsordnung | |
Eine Dokumentation des britischen TV-Senders Channel 4 zeigt, wie Rahman | |
vom islamistischen Netzwerk IFE unterstützt wurde, das eine islamische | |
Gesellschaftsordnung anstrebt. Seine Gegner wurden in Flugblättern, die von | |
seinem Wahlkampfleiter stammten, als „Feinde des Islam“ diskreditiert – | |
obwohl der Kandidat selbst bis dahin nur wenig religiös erschienen war. | |
Kritiker des Bürgermeisters werfen Lutfur Rahman vor, das Geld aus der | |
Haushaltskasse nach Gutdünken fließen zu lassen, vor allem in die | |
bengalische Community und in Richtung der Moschee. Beispiel: Knapp drei | |
Millionen Pfund gibt der Stadtteil für religiöse Gebäude aus, aus weiteren | |
Töpfen werden Jugendclubs in vorwiegend bengalischen Gegenden und | |
Muttersprachkurse nur auf Bengalisch finanziert, obwohl es auch andere | |
Minderheiten im Stadtteil gibt. | |
Nach drei Jahren Herrschaft Lutfur Rahmans hat sich für kleine | |
Geschäftsleute wie Samir Uddin, die ihm einst ihre Stimme gaben, aber | |
nichts verbessert. Zwar schaute der Bürgermeister persönlich vorbei, als im | |
Sozialbau seiner kranken Eltern die Fenster kaputtgingen. „Im Teetrinken | |
ist er ja gut, sonst aber für nichts“, sagt Uddin. | |
An Affären mangelt es dem Stadtteil nicht. Lady Uddin, eine – nicht mit ihm | |
verwandte – bengalische Abgeordnete im Oberhaus aus Tower Hamlets, betrog | |
das Parlament um 125.000 Pfund. Und bei den letzten Nachwahlen zum | |
Parlament sollen in Tower Hamlets nicht nur Gefängnisinsassen – die in | |
England kein Wahlrecht haben – ihre Stimme abgegeben haben, sondern auch | |
Tote. | |
Unterstützer des Bürgermeisters hätten an den Haustüren Stimmzettel für die | |
Briefwahl eingesammelt und selbst ausgefüllt, berichtete The Telegraph und | |
listete zahlreiche Fälle einzeln auf. Die Wahlkommission ist inzwischen | |
jedoch zu dem Schluss gekommen, es gebe nicht genügend Hinweise für einen | |
Wahlbetrug. | |
## Stimmen der Kritiker | |
Nicht nur auf der Brick Lane, auch im Rathaus mehren sich inzwischen die | |
Stimmen der Kritiker. Eine neue politische Kultur sei mit Lutfur Rahman in | |
das Rathaus eingezogen. Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fraktionen | |
gebe es nicht mehr, klagt der örtliche Labour-Vorsitzende Chris Weavers. | |
Der konservative Stadtrat Peter Golds, der aus einer jüdischen Familie aus | |
Hamburg stammt, spricht von einer „Dorfpolitik mit einem Ältestenrat“. Die | |
Stimmung im Rathaus sei für ihn, was das Nazi-Deutschland der Dreißiger für | |
seine Eltern gewesen sei. Wenn sich der Abgeordnete, der sich offen als | |
schwuler Politiker gibt, bei einer Sitzung zu Wort meldet, zische es ihm | |
aus dem Publikum „Scheißschwuchtel“ entgegen. Das komme von islamistisch | |
motivierten, homophoben Unterstützern des Bürgermeisters. | |
Ende 2014 geht Lutfur Rahmans erste Amtszeit zu Ende – „eine vierjährige | |
Diktatur“, sagt Stadtrat Golds. Die Labour Party will nun die Bengalen | |
wieder für sich gewinnen. Parteichef Ed Miliband hat für die Strategie, | |
verprellte Labour-Anhänger zurückzuholen, beim vergangenen Parteitag schon | |
einen Slogan ausgegeben: Labour sei jetzt die Partei der „One Nation“. | |
28 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Johannes Himmelreich | |
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