# taz.de -- Demografischer Wandel und die Provinz: Das Großstädtchen | |
> Gardelegen ist die drittgrößte Stadt Deutschlands – flächenmäßig. 24.0… | |
> Einwohner, 49 Ortsteile. Ein Stadtporträt in sieben Episoden. | |
Bild: Estedt, Ipse oder Ziepel – gehören alle zu Gardelegen, dessen Ortsker… | |
## Erste Episode | |
Auch wenn die Berliner Mauer nicht gefallen wäre, hätte Gardelegen einen | |
„Italiener“ bekommen. Maik Eulenberg und Dirk Brill sind heute Mitte 40. | |
Die gelernten Elektriker waren Ende der Achtziger in Berlin auf Montage. | |
Tagsüber zogen sie Leitungen, abends aßen sie in der „Krusta-Stube“ in der | |
Warschauer Straße. „Das Ding war rappelvoll, und das Essen hat geschmeckt“ | |
erinnert sich Maik Eulenberg. „So was bei uns in Gardelegen, das wär’s.“ | |
Die Freunde kündigten ihren Elektrikerjob und begannen eine Umschulung zum | |
Koch. Tauschten Blaumann gegen Kochmütze. „Unsere Kollegen dachten, wir | |
sind durchgeknallt. Eine Umschulung vom Elektriker zum Koch war damals | |
völlig absurd“, sagt Dirk Brill. | |
Doch der Plan erwies sich als wahrer Glücksfall, als Monate später die | |
Wiedervereinigung kam. Dirk und Maik standen am Pizzaofen im „Napoli“ – | |
ihre ehemaligen Kollegen auf dem Flur des Arbeitsamts. Die zwei sitzen an | |
einem Tisch in ihrem Restaurant und blättern in einem dicken Buch mit | |
eingeklebten Fotos und Zeitungsausschnitten – einer Firmenchronik. Die | |
Bilder auf den ersten Seiten dokumentieren den Umbau einer | |
heruntergekommenen Bäckerei zum „Italiener“. Etwas weiter hinten zeigt ein | |
Foto das fertig renovierte Haus im Trattoria-Stil. Davor die zwei BMW der | |
Geschäftsführer. „Es scheint, als haben wir alles richtig gemacht“, | |
resümiert Dirk Brill. | |
## Zweite Episode | |
Konrad Fuchs steht in seinem Büro und zeigt auf eine große Luftbildaufnahme | |
mit sehr viel Grün. Fuchs ist Gardelegens Bürgermeister. Ein schlanker Mann | |
Anfang sechzig mit Oberlippenbart und lichtem grauem Haar. Er ist Oberhaupt | |
über 632 Quadratkilometer mit 24.000 Einwohnern in 49 Ortsteilen mit Namen | |
wie Estedt, Ipse oder Ziepel. Gardelegen ist die flächenmäßig drittgrößte | |
Stadt in Deutschland. Das war nicht immer so. | |
Den Sprung auf Platz drei machte Gardelegen erst 2011 im Zuge einer | |
Gebietsreform, als 18 Orte eingemeindet wurden. Eine Zwangsehe auf Druck | |
des Innenministeriums. Die bis dahin selbstständigen Dörfer protestierten | |
heftig gegen diese Direktive. Und auch Fuchs war wenig begeistert von dem | |
Zuwachs. „Die wollten nicht, ich wollte nicht, aber nun mussten wir | |
irgendwie miteinander klarkommen“, erinnert er sich. Besonders ärgerlich | |
war für das Stadtoberhaupt, dass Gardelegen bis zu den erzwungenen | |
Eingemeindungen nahezu schuldenfrei war. Doch einige der neuen Stadtteile | |
brachten eine Mitgift in Form von finanziellen Verbindlichkeiten mit in die | |
Ehe. „Die Fläche ist jetzt unser Kapital“, beteuert Fuchs. | |
## Dritte Episode | |
Vom Stadtteil Dannefeld bis zum Gardelegener Rathaus sind es 23 Kilometer. | |
Um Lebensmittel zu kaufen, müssen die Dannefelder ihren Ort nicht | |
verlassen. Bäcker und Metzger kommen mit ihren Verkaufswagen in das | |
380-Einwohner-Dorf. Für die älteren Leute eine komfortable Lösung. Auch für | |
Wolfgang Hartung. Der 76-Jährige sitzt in Hemd und Lederweste in seinem | |
Atelier inmitten unzähliger Acrylbilder, die Motive aus der Moorlandschaft | |
des Drömling zeigen. | |
Sein Nachbar und Freund Andreas Finger kommt oft zu ihm ins Atelier. Die | |
Gespräche drehen sich dann weniger ums Malen als vielmehr um | |
Kommunalpolitik. Finger ist ein großer, stämmiger Mann mit Schiebermütze | |
und einer angenehmen Bassstimme. Seit der Zwangseingemeindung von Dannefeld | |
sitzt er als Parteiloser im Stadtrat von Gardelegen. In dem Gremium sind 12 | |
Abgeordnete aus dem Kerngebiet der alten Hansestadt und 24 Räte aus den | |
heutigen Ortsteilen vertreten. | |
Streng genommen gibt es nur zwei konkurrierende Fraktionen – Stadt gegen | |
Land. „So ein Landkonglomerat wie Gardelegen ist in gewisser Weise ein | |
Krankheitsbild für Gebiete mit viel Fläche, wenig Menschen und Mangel an | |
Potenzial. Es werden Ortschaften vereint, damit sie wahrnehmbar bleiben“, | |
analysiert Finger. Eine gemeinsame Identität, gar ein | |
Wir-sind-Gardelegener-Gefühl sieht er nicht. | |
Doch die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten ist nicht die Sache der | |
beiden Männer. Wenn das soziale Gerüst einer Dorfgemeinschaft ins Wanken | |
gerät, müssen neue Stützen eingezogen werden. Gemeinsam mit anderen | |
Dannefeldern haben sie begonnen, ein ehemaliges Elektrizitätswerk in ein | |
Dorfgemeinschaftshaus umzubauen. Eine Küche, Toiletten, ein kleiner Saal | |
mit Tresen. | |
## Vierte Episode | |
Pfarrer Albrecht Warweg sitzt vor einer Bücherwand in seinem Arbeitszimmer | |
und schaut aus dem Fenster. Sein Blick fällt auf ein Feld und Kiefernwald. | |
Noch. Hier soll ein 18-Loch-Golfplatz entstehen – doch viel mehr als das. | |
Auf über 60 Hektar wollen Investoren einen Freizeitpark errichten: Hotels, | |
Restaurants und einen Wellnessbereich. Das ganze Programm für 40 Millionen. | |
Der Geistliche nimmt es gelassen: „Solche Pläne gab es schon häufiger. | |
Geworden ist das nie etwas. Falls doch, dann sammle ich Golfbälle.“ | |
Als Warweg vor 35 Jahren seinen Dienst als Pfarrer begann, hatte er 800 | |
Gemeindemitglieder in fünf Dörfern zu betreuen. Heute sind es 1.400 | |
Mitglieder in elf Stadtteilen. Die Probleme, die eine so große und dünn | |
besiedelte Fläche mit sich bringt, kennt Warweg gut. Das Konstrukt des | |
Flächenriesen sieht er als gescheitert: „Da ist nichts zusammengewachsen. | |
Das wurde zusammengeprügelt. In den eingemeindeten Dörfern wurde | |
gestrichen, was sich nicht rechnete. Es verschwinden Schulen, Sportvereine | |
und dann auch noch der Pastor. Zurück bleibt das Gefühl ’Wir werden | |
abgeschrieben‘.“ | |
Was passiert mit einer Gegend, in der die Menschen immer weniger werden? | |
Der Pfarrer schweigt einige Sekunden und streicht sich über seinen | |
Kinnbart. „Es gibt keine Lösung. Es wird wüste Dörfer und versottene | |
Wasserleitungen geben.“ Noch einmal Schweigen. „Und der Wolf kommt“, sagt | |
er dann und lacht. Vermehrt wird der Wolf von Jägern gesichtet und | |
gerissenes Muffelwild gefunden. In Hamburg und Berlin gibt es Füchse und | |
Wildschweine – in Gardelegen kommt der Wolf. | |
## Fünfte Episode | |
Samstagabend gegen neun: Das „Amadeus“, so heißt die Kellerbar im „Napol… | |
füllt sich. Die Gäste warten auf den Kampf Klitschko gegen Pianeta. An | |
einem Tisch sitzen zwei Paare um die fünfzig vor rosa-gelb-farbenen | |
Cocktails. „Na, was is euer Tipp?“, ruft ihnen Maik Eulenberg vom Tresen | |
aus zu, während er vier Gläser mit Ramazzotti füllt. „Drei Runden, länger | |
geht’s heute nich“, antwortet ein Mann im Holzfällerhemd. „Ach, was. | |
Siebente Runde, sag ich. Der spielt erst mit ihm, wie mit einem Mäuschen“, | |
entgegnet ihm eine Frau mit Kurzhaarschnitt. | |
Der Boxkampf beginnt – wenig später verpasst Klitschko seinem Gegner einen | |
Leberhaken. Die Frau mit den kurzen Haaren hebt den Arm, spreizt alle fünf | |
Finger und ruft „Maik“. Drei Minuten später stellt Eulenberg den zwei | |
Paaren erneut Ramazzotti auf den Tisch und stößt mit ihnen an. Runde sieben | |
– Klitschko bleibt Weltmeister. | |
Die Leute kommen gern zu Maik und Dirk. Man kann den Abend bei ihnen | |
beginnen und bei den beiden beenden: Pasta im „Napoli“, Boxen im „Amadeus… | |
und Tanzen in der „Alten Feuerwache“. Das Backsteingebäude steht rund | |
hundert Meter vom Ristorante entfernt. Eulenberg und Brill betreiben in dem | |
ehemaligen Feuerwehrdepot eine Diskothek. Es ist kurz nach Mitternacht. Vor | |
der Feuerwache stehen kichernde Teenager und atmen Zigarettenqualm in den | |
nächtlichen Himmel. | |
An der Tür hängt ein neongelbes Plakat mit der Aufschrift „Alles muss raus | |
Party“. Von drinnen klingt „Kein zurück“ von Wolfsheim. Die Jugendlichen | |
kommen zur Feuerwache aus dem ländlichen Umfeld zur einzigen Disco weit und | |
breit. Eulenberg und Brill sind nicht nur gute Geschäftsmänner, sondern an | |
Wochenenden auch so etwas wie die letzte Rettung. | |
## Sechste Episode | |
Keine Rettung gab es für Garley, die älteste Biermarke der Welt. Bereits | |
1314 erhielt die Stadt dafür das Braurecht. Der Zapfenstreich kam im Herbst | |
2012. Seitdem gehört Garley zur Insolvenzmasse einer Brauerei, die das Bier | |
zuletzt in Sachsen braute und in Flaschen mit Garley-Etiketten abfüllte. | |
Auch Billy ist aus Gardelegen verschwunden. Bereits zu DDR-Zeiten ließ Ikea | |
den Bücherregalklassiker hier produzieren – 2009 wurde der Standort in die | |
Slowakei verlegt. In der Slowakei und in Gardelegen hat die Eldisy GmbH | |
Produktionsstätten, wo Karosseriedichtsysteme für nahezu alle | |
Automobilhersteller gefertigt werden. | |
Aber auch andere größere Mittelständler, die ihr Geld mit | |
Kunststoffrecycling oder Antriebstechniken verdienen, haben sich im | |
Gewerbegebiet der Stadt niedergelassen. Der Vorteil: viel Platz und eine | |
günstige Lage mit Blick auf die Ballungszentren Hamburg, Berlin und | |
Wolfsburg. Ein kleines, ganz anderes Gewerbegebiet befindet sich außerhalb | |
der Siedlungen. Dort muss Tamika ihrer Arbeit nachgehen. Die Thailänderin | |
mit rot geschminkten Lippen und schulterfreiem Oberteil streicht sich durch | |
ihre langen schwarzen Haare und schaut aus dem Fenster auf die | |
vorbeifahrenden Autos. Sie sitzt in einem Buchenwald, in einem | |
heruntergekommenen Wohnwagen, an einer Bundesstraße. Und wartet auf | |
Kundschaft. | |
## Siebte Episode | |
Ganz in der Nähe übt die Bundeswehr für ihre Auslandseinsätze. Im | |
sogenannten Gefechtsübungszentrum Heer“ befinden sich den afghanischen | |
nachempfundene Dorfkulissen. | |
Hier entsteht in den kommenden Jahren das weltweit modernste | |
Simulationszentrum mit der „Übungsstadt Schnöggersburg“: Für etwa 100 | |
Millionen Euro werden dafür auf einem sechs Quadratkilometer großem Areal | |
über 500 Häuser, Industriegebiete, U-Bahn-Tunnel sowie ein 22 Meter breiter | |
Fluss angelegt. | |
21 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Friedemann Kahl | |
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