# taz.de -- Dialog der Religionen in Nigeria: Hunger nach Frieden | |
> Im terrorgeplagten Norden Nigerias wollen Christen und Muslime | |
> voneinander lernen. Unter anderem in einer Fernsehsendung. | |
Bild: In Nigeria sind von den 160 Millionen Bewohnern die Hälfte Muslime und 4… | |
ABUJA taz | Er wischt sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn, | |
steigt in den Wagen, legt die in dunkles Leder gebundene Bibel auf den | |
Beifahrersitz und rast los. George Ehusani ist spät dran an diesem | |
Montagvormittag. Der Priester fährt den Hügel hinauf, der Wagen schleudert | |
durch den Schutt, springt über Gesteinsbrocken, dass die Achsen knacken. | |
Ehusani parkt vor den Fernsehstudios, zieht rasch seinen schwarzen Blazer | |
an, nimmt seine Bibel und eilt hinein. Und obwohl die Sendung gleich | |
beginnt und er noch Details mit dem Moderator klären muss, wirkt Ehusani | |
sehr gelassen. Für den 55-jährigen Nigerianer ist das hier Routine. | |
Vor AIT (African Independent Television), dem größten nigerianischen | |
privaten TV-Sender des Landes mit Sitz in der Hauptstadt Abuja, stehen | |
riesige Stromaggregate, denn ein funktionierendes Stromnetz gibt es nicht. | |
Hier wird zweimal in der Woche das | |
„[1][//www.facebook.com/pages/Interfaith-Forum-IFAP/264474786995102:Interfa | |
ith Forum]“ aufgezeichnet. Ein 30-minütiges Format, welches Vorurteile | |
zwischen Christen und Muslimen erst gar nicht aufkommen lassen soll. | |
Bis zu 50 Millionen Menschen schauen die Sendung, bei der sich der Priester | |
Ehusani und der Imam Muhammad Nurudeen Lemu in braunen | |
Kunstlederbürostühlen gegenübersitzen, als Hintergrund dient ein schwarzes | |
Tuch. Thema heute ist die Theodizeefrage: Warum lässt Gott Leid und Böses | |
zu, wenn er gut und allmächtig ist? | |
Es ist keine Diskussion, wie wir sie aus dem deutschen Fernsehen kennen. | |
Niemand wird bei dieser Debatte laut oder kontrovers, es ist ein bisweilen | |
langatmiger Austausch von Ansichten. Der Priester und der Imam antworten | |
mit Textstellen aus Bibel und Koran, die sie neben sich liegen haben. Der | |
Moderator fragt ruhig nach, tupft sich den Schweiß von seiner Glatze. | |
Ehusani sitzt ganz in Schwarz lächelnd in der Mitte, links der Moderator | |
und rechts der Imam, beide in weißen Gewändern und Ledersandalen – sie | |
nicken sich immer wieder wohlwollend zu. Die zwei Kameramänner sehen so | |
gelangweilt aus, als würden sie gleich einschlafen. | |
## Die Dringlichkeit des interreligiösen Dialogs | |
Ehusani ist ein Star in seiner Heimat. In Nigeria geboren, wollte er | |
eigentlich Anwalt werden, bis er sich als 17-Jähriger für die kirchliche | |
Laufbahn entschied. Der kleine Mann mit Nickelbrille studierte an der | |
US-Elite-Uni Harvard, lehrte in Singapur und war Vorsitzender der | |
nigerianischen Bischofskonferenz. Zusätzlich ist er Mitherausgeber einer | |
der profiliertesten Tageszeitungen Nigerias, des Guardian. | |
Doch sein Hauptengagement gilt dem interreligiösen Dialog. Wenn er einen | |
Gegner hat, dann ist es die Terrorgruppe Boko Haram. Wegen dieser fährt er | |
umher, hält Vorträge, sitzt in Talkshows, mahnt, warnt und wirbt um | |
Unterstützung für seine Arbeit. | |
Denn der Terror der islamistischen Untergrundbewegung Boko Haram im Norden | |
nimmt kein Ende. Die salafistische Gruppe will das politische System | |
zerschlagen, dessen Eliten sie als korrupt und sündhaft betrachtet, will | |
einen islamischen Staat errichten und die Scharia – das islamische Recht – | |
einführen. Im größten christlich-islamischen Staat der Welt sind von den | |
160 Millionen Bewohnern die Hälfte Muslime und 40 Prozent Christen. Obwohl | |
Nigeria einer der wichtigsten Erdölproduzenten der Welt ist, leben zwei | |
Drittel der Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze. Inmitten dieser | |
Verzweiflung ist es leicht, Anhänger für radikale Ideen zu finden. | |
Die Sekte entstand um 2000 herum, Boko Haram bedeutet in der örtlichen | |
Haussa-Sprache so viel wie „westliche Bildung verboten“. Über die | |
gewalttätigen Salafisten ist nur wenig bekannt, gesicherte Informationen | |
über Anhängerzahl, Strukturen und Finanzierung fehlen. | |
Seit 2009, als die nigerianische Führung versuchte, die Organisation zu | |
zerschlagen, haben die Islamisten eine Spur von Terroranschlägen | |
hinterlassen. Sie ermorden Politiker, Wirte von Lokalen mit | |
Alkoholausschank, liberale muslimische Kleriker und sprengen Kirchen in die | |
Luft. Nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch | |
kosteten die Anschläge in den vergangenen vier Jahren mehr als 3.000 | |
Menschen das Leben. | |
## Flaneur im Messgewand | |
Ein neuer Tag: Es ist acht Uhr morgens, brütend heiß, ein Geruch von | |
Schweiß und Abgasen weht durch die Luft. In der Kirche in Abuja sind etwa | |
300 Menschen zum Gottesdienst zusammengekommen, in einer Ecke stehen ein | |
Schlagzeug und Trommeln. Priester Ehusani tritt vor die Gemeinde und | |
beginnt seine Predigt mit dem Thema Boko Haram. Er warnt vor | |
„Selbstgerechtigkeit“ und „Selbstjustiz“: „Liebet eure Feinde“, sag… | |
die Hände gestikulierend, ein Lächeln auf den Lippen. Er sieht aus wie ein | |
freundlicher Flaneur in seinem Messgewand. „Wir sollen selbst in einem ganz | |
fürchterlichen Feind ein Gottesgeschöpf entdecken. Auch ein Terrorist ist | |
mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet“, fährt er fort. „Diese | |
Menschen leben in der Dunkelheit, wir müssen für sie beten.“ | |
Die Religion scheint, wie so oft, ein Vorwand für ganz andere Absichten zu | |
sein. In Nigeria kämpfen Menschen um das tägliche Überleben, es gibt | |
Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppen. Der ölreiche Süden ist überwiegend | |
christlich. Die mehrheitlich islamischen Bewohner im Norden betrachten | |
christliche Bauern und Kaufleute, die zum Teil schon seit Jahrzehnten in | |
der Region leben, immer noch als Eindringlinge. Diesen „Siedlern“ ist es | |
nicht erlaubt, sich um politische Ämter zu bewerben oder sich an lokalen | |
Wahlen zu beteiligen. Die Diskriminierung gilt auch für Muslime im Süden – | |
ihnen werden nicht sämtliche Bürgerrechte eingeräumt. | |
So berichtet Ehusani von Kollegen, die ihre Gemeinde vor Muslimen warnen | |
und sich Waffen besorgen, um sich gegebenenfalls verteidigen zu können. | |
„Beide Seiten rüsten auf“, sagt er. Als im Juni 2012 zwei Anschläge verü… | |
wurden, zu denen sich Boko Haram bekannte, machten anschließend christliche | |
Jugendliche Jagd auf Muslime, Moscheen wurden angezündet. Diejenigen | |
Christen im Norden, die es sich leisten können, wollen weg aus diesem | |
tödlichen Umfeld – Muslime im Süden des Landes fliehen in Richtung Norden. | |
## „Es gibt keine Hoffnungslosigkeit“ | |
Reichen da Gebete und Dialoge aus, wenn die eigenen Leute angegriffen | |
werden? Ehusani atmet hörbar ein, lächelt aber wie fast immer. „Leider hat | |
selbst ein Imam nicht unbedingt Einfluss darauf, was junge Radikale | |
denken“, antwortet er. Letztlich könne nur das Gesetz den Terror stoppen. | |
Dann zitiert er das Gleichnis vom Senfkorn: „Es gibt keine | |
Hoffnungslosigkeit.“ | |
Wer durch Nordnigeria reist, kann täglich an einer muslimisch-christlichen | |
Veranstaltung teilnehmen. Ob in Gemeindesälen oder Gebetsstuben, in | |
Fernsehstudios oder kirchlichen Akademien: Überall ist Dialog angesagt, | |
wollen Christen und Muslime voneinander lernen, miteinander leben und reden | |
– das sind die Bilder, die sich einem bieten. Zu jedem Treffen der | |
Bischofskonferenz wird ein Vertreter des Obersten Islamischen Rats | |
eingeladen, und alle zeigen sich einig über die Hauptfaktoren der Krise: | |
den Überlebenskampf einer verarmten, multiethnischen Bevölkerung und das | |
Versagen der Regierungselite, die ihren Bürgern keine Perspektiven bietet. | |
Warum müssen Christen bei so viel Einsicht und Austausch um ihr Leben | |
fürchten, wenn sie in die Kirche gehen? Warum zögern liberale Muslime, ihre | |
Meinung kundzutun? „Kirchen sind halt ein attraktives Ziel“, sagt Ehusani. | |
Der Aufschrei bei solch einem Angriff sei einfach lauter als etwa bei der | |
Bombardierung einer Polizeiwache. Er räumt ein, dass die Erfolge des | |
TV-Formats wohl eher bescheiden seien, er macht sich keine Illusionen: „Ein | |
hungriger Mensch wird keinen Frieden geben.“ | |
Erst vor einer Woche wurden bei Angriffen von mutmaßlichen Islamisten auf | |
Bürgerwehren 20 Menschen getötet. Die Bürgerwehren hatten sich zum | |
Widerstand gegen Boko Haram formiert. Am Freitag wurden mindestens 44 | |
Menschen von Boko-Haram-Anhängern getötet – und jeder neue Anschlag lähmt | |
den Dialog zwischen den Religionen. Priester Ehusani muss noch sehr viel | |
reden. | |
9 Sep 2013 | |
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## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
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