# taz.de -- Gregor Gysi über das Altern: „Es gibt Altersrassismus“ | |
> Der Fraktionschef der Linken ist gelassener als in seiner Jugend. Ein | |
> Gespräch über Eitelkeit, einsame Abendessen und Privilegien des Alters. | |
Bild: „In den USA wären solche Fragen, die Sie mir gerade stellen, verboten,… | |
taz: Herr Gysi, haben Sie Angst vor dem Alter? | |
Gregor Gysi: Nö. Ich genieße auch die Privilegien des Alters. | |
Welche wären das? | |
Ab sechzig fängt die Zeit an, dass ein junger Mann fragt: Darf ich Ihnen | |
die Tasche tragen? Und man begeht den Fehler, zu sagen: Nee, danke, das | |
kann ich schon noch alleine. Und jetzt sage ich immer: Und den Koffer bitte | |
auch noch. Das muss man aber lernen. | |
Hat Sie das Alter verändert? | |
Ja. Komischerweise habe ich heute mehr Geduld als in meiner Jugend, obwohl | |
man da ja mehr Zeit hat. Und ich bin wesentlich gelassener und dadurch | |
vielleicht auch souveräner. Andererseits gibt’s auch Nachteile. Man merkt | |
sich zum Beispiel Dinge immer schlechter. Damit muss man lernen, umzugehen. | |
Gelassener inwiefern? | |
Es gibt Konflikte im Berufsleben, über die hätte ich mich früher mehr | |
aufgeregt. Da muss heute schon viel mehr zusammenkommen. Ich lese auch | |
nicht mehr alles, was über mich geschrieben wird. Erst wenn ich zum zweiten | |
Mal darauf angesprochen werde, denke ich, es scheint doch wichtig zu sein. | |
Ich kann auch Auseinandersetzungen inzwischen besser durchstehen. Im | |
Rückblick finde ich: Das schlimmste Alter ist zwischen fünfzig und sechzig. | |
Ach ja? | |
Tja, das ist das einzige Alter, in dem man erwachsen ist. Weil man kein | |
einziges Privileg der Jugend mehr hat und noch kein einziges des Alters. Es | |
gibt überhaupt keine Ausrede. Wenn ich damals sagte: Was denn, fünf | |
Kundgebungen an einem Tag!? Dann haben meine Mitarbeiter gesagt: Wieso, du | |
hast doch die Zeit. Mit unter Fünfzig werden dir noch Sachen verziehen, ab | |
Fünfzig nicht mehr. Und erst mit Sechzig beginnt dann die Zeit neuer | |
Privilegien. Wenn ich heute im Flughafenbus sitze und eine Frau kommt rein, | |
sage ich mir: Mein Gott, du bist jetzt über sechzig. Du kannst doch auch | |
sitzen bleiben. | |
Ist es peinlich, über Alter zu sprechen? Alt zu sein gilt in der medialen | |
Gesellschaft doch als Malus. | |
Unsere Gesellschaft leidet an einem Altersrassismus, das ist wahr. In | |
anderen Ländern läuft das anders. In den USA zum Beispiel wären solche | |
Fragen, die Sie mir gerade stellen, verboten, weil diskriminierend. Bei uns | |
läuft es nur in der Politik anders. Nicht wenige Politikerinnen und | |
Politiker glauben, dass sie auch noch mit neunzig im Bundestag rumdödeln | |
können. | |
Können Sie sich das vorstellen – mit neunzig noch im Bundestag? | |
Nein, nein, nein, nein. Ich habe mal ironisch gesagt, vielleicht werde ich | |
ja noch Alterspräsident. Aber ich habe schon relativ klare Vorstellungen. | |
Verraten Sie uns welche! | |
Ganz bestimmt nicht. Die gehen niemanden etwas an, das sind meine inneren | |
Vorstellungen. | |
Aber das ist doch ein Politikum. | |
Jetzt kandidiere ich. Und bleibe selbstverständlich vier Jahre im | |
Bundestag. Da gibt’s keine Abstriche. | |
Kann es sein, dass Sie unsere Fragen doch als diskriminierend empfinden? | |
Nein, ich gehe doch mal davon aus, dass Sie wissen, wie alt ich bin. Ich | |
bin in solchen Fragen hemmungsfrei. Das ist wie mit meiner Körpergröße – | |
damit kriegt mich auch keiner. | |
Im letzten Jahr haben Sie etliche Kilo abgenommen. Warum? Angst vor | |
Kontrollverlust, Eitelkeit? | |
Ich saß bei mir zu Hause und schaltete durch die Fernsehprogramme. Da sah | |
ich den Kabarettisten Erwin Pelzig und neben ihm saß so ein dickes | |
Schwabbel. Ich guckte genauer hin und stellte fest: Das war ja ich. Da habe | |
ich den Beschluss gefasst, abzunehmen. Das macht mir inzwischen sogar Spaß. | |
Ich habe bei 80 angefangen und bin jetzt bei 66,5. | |
Wie sieht es mit Einsamkeit aus? Ist die im Alter leichter zu ertragen? | |
Das weiß ich nicht. Ich war noch nie in meinem Leben wirklich alleine. In | |
diesem Sommer habe ich einen Test gemacht, ich war eine Woche alleine im | |
Urlaub. Das war schwierig. Frühstück allein ist in Ordnung, tagsüber auch | |
alles wunderbar. Aber das Abendessen ist doof. Da sitzen im Restaurant alle | |
beisammen, nur man selbst ist alleine. Zum Glück kamen in der zweiten Woche | |
meine Kinder nach. | |
Heide Simonis hat, nachdem sie 2005 in Schleswig-Holstein nicht als | |
Ministerpräsidentin wiedergewählt wurde, mal gesagt: Sie schrecke die Idee, | |
auf der Straße nicht mehr erkannt zu werden. Kennen Sie diese Angst? | |
Ach, ich war ja mal drei Jahre raus aus der Politik, das dürfen Sie nicht | |
vergessen. Ich bin 2002 als Berliner Bürgermeister und Senator | |
zurückgetreten und bin zurück in meinen Anwaltsberuf. Das war eine | |
anstrengende Zeit, ich war ja vorher noch nie Anwalt in der Bundesrepublik | |
Deutschland. Sich mit über fünfzig eine Praxis aufzubauen, ist kompliziert, | |
kann ich Ihnen sagen. Aber es ist mir gelungen, und ich war raus aus der | |
Politik. | |
Drei Jahre später waren Sie wieder Spitzenkandidat der Linkspartei. Hatten | |
Sie Sehnsucht nach den Scheinwerfern? | |
Weniger, aber nach einer bundesweiten Linken. Und für mich habe ich seither | |
eine Lösung gefunden. Ich bin heute zu 90 Prozent Politiker, zu 6 Prozent | |
Anwalt und zu 4 Prozent Publizist und Moderator. | |
Wie finden Sie ehemalige Politiker wie Heide Simonis in TV-Shows wie „Let’s | |
dance“ oder Norbert Blüm in der Rateshow „Was bin ich?“? Ist das peinlic… | |
Zu Blüm passt das irgendwie. Was Heide Simonis gemacht hat, hätte ich nie | |
getan. Die Redaktion hat mich ja auch angeschrieben. | |
Warum sind Sie eigentlich sicher, dass Sie den Zeitpunkt für den Ausstieg | |
aus der Politik erkennen? | |
Im Alter kann es den Punkt geben, da wird man wunderlich und merkt es | |
nicht. Da braucht man Angehörige und gute Freundinnen und Freunde, die das | |
einem sagen. Klar, man ist dann pappesatt mit ihnen, richtet sich aber | |
danach und verzeiht es ihnen selbstverständlich. | |
Stellen Sie sich das so vor oder wissen Sie, dass es so ist? | |
Das wird so sein. Ich habe das bei einer ähnlichen Frage erlebt. Ich kenne | |
keinen in der ersten Reihe der Politik, der nicht eitel wäre. Ich bin es | |
auch. Aber wichtig ist: Beherrschst du deine Eitelkeit oder beherrscht sie | |
dich? Wenn sie dich beherrscht, begehst du die gröbsten Fehler. Beispiele | |
von anderen nenne ich Ihnen nicht – aber das ist auch mir passiert. Und da | |
hat mich mal ein Freund beiseitegenommen und gesagt: Gregor, das hast du | |
gerade nur aus Eitelkeit getan. Du musst einen haben, der es dir trotzdem | |
sagt. | |
Wollen Sie nicht lieber noch etwas Großartiges ohne Politik machen? | |
Was ist großartig und real? Ich habe ein paar Reiseträume. Letztes Jahr | |
habe ich das erste Mal in meinem Leben einen speienden Vulkan gesehen. So | |
etwas ist ein Wunder! Davon hätte ich gern noch ein paar. Und klar – dafür | |
kann es irgendwann auch zu spät sein. | |
Macht Ihnen der Tod Angst? | |
Eher krank zu werden und Alzheimer zu bekommen. Davor graut mir. Ich hoffe, | |
dass es in dem Fall eine Lösung gibt. Meine Mutter hat immer gesagt: Weißt | |
du, die helfen einem bei der Geburt, die müssten einem eigentlich auch beim | |
Sterben helfen. Aber das ist alles leichter gesagt als geregelt und getan. | |
Im Grunde kann man sich auf solche Situationen nicht vorbereiten. | |
Vielleicht glücklicherweise. Das Einzige, wozu ich wild entschlossen bin, | |
ist: Ich will eine Urne. Nix mit Sarg. Ein Häufchen Asche reicht. Meinen | |
Kindern habe ich mal im Scherz gesagt, sie müssten die Urne am besten über | |
dem Meer ausschütten. Und dann käme sicher ein Windstoß und alle hätten | |
meine Asche in den Augen. Gelacht habe vor allem ich. | |
Haben Linke eigentlich ein schwierigeres Verhältnis zum Tod, weil sie | |
keinen Begriff von Transzendenz haben? | |
Wenn man nicht religiös ist, weiß man, dass man einfach in einen Kreislauf | |
der Natur eingeht und wie eine Blume verwelkt und anderen hilft zu blühen. | |
Das lasse ich aber nicht näher an mich heran. Muss nicht sein. Ich war ja | |
schon einmal so krank, dass ich daran hätte sterben können. Und ich bin | |
auch damals nicht religiös geworden. | |
18 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
Stefan Reinecke | |
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