| # taz.de -- Die Wahrheit: Souverän schönsaufen | |
| > Als Wahlhelfer in einem Wahllokal erlebt man lauter seltsame Individuen, | |
| > die alle staatstragende Wähler sein wollen. | |
| Bild: Nach der Wahl | |
| Dafür nun also der ganze Aufwand. Stundenlang rumsitzen, „Guten Tag“ – | |
| „Bitte“ – „Danke“ – „Auf Wiedersehen“ sagen, Hunderte Zettel | |
| auseinanderfalten, durchzählen, auflisten – und alles, damit Mutti am Ende | |
| doch Kanzlerin bleibt. Das Leben eines Wahlhelfers ist hart. | |
| Als ich mich meiner Stadt vor vielen Jahren für den Job anbot, begründete | |
| ich dies Freunden gegenüber mit journalistischer Neugierde und dem Gefühl | |
| von staatsbürgerlicher Verantwortung für das große Ganze. Man erklärte mich | |
| für „schön doof“. Wie auch immer: Seit jenen Tagen erreicht mich | |
| zuverlässig zwei, drei Monate vor jeder Wahl ein Brief aus dem Rathaus. Auf | |
| die Frage, ob es denn kein Entrinnen gebe, antwortete der Pressesprecher: | |
| Doch, gebe es – ich müsse entweder in eine andere Stadt ziehen oder | |
| totgehen. So viel zum Thema bürgernahe Verwaltung. | |
| Ach, was soll’s. Inzwischen sind Sven, Holger und ich ein eingespieltes | |
| Team – diesen Sonntag haben wir nun also zum dritten Mal gemeinsam in der | |
| Josefschule das Wahlgeschehen geleitet. Sven war fürs Häkchenmachen im | |
| Wählerverzeichnis zuständig, Holger fürs Führen einer völlig überflüssig… | |
| Strichliste auf Schmierpapier, ich fürs Anreichen der Stimmzettel. | |
| Selbstverständlich zu jeder Sekunde mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass | |
| alle Gewalt im Staat von genau diesem Volke ausgeht, das da gerade bei uns | |
| aufläuft. Was teilweise ein wenig beängstigend ist. | |
| Ich habe da zum Beispiel eine Frau vor dem inneren Auge, die sich uns | |
| gegenüber sehr, seeehr kritisch über die politische Lage im Lande im | |
| Allgemeinen und im Besonderen und so weiter und so fort äußerte, um dann | |
| hinter dem Sichtschutz der Wahlkabine Platz zu nehmen und ihre beiden | |
| Kreuze – selbstverständlich! – in Zeile vier bei den Grünen zu machen. Was | |
| ich deshalb weiß, weil sie am Ende das Zusammenfalten nicht hingekriegt | |
| hat. Aber ich nehme an, die Ausspäherei der NSA findet sie total schlimm. | |
| Auf dass es in die Annalen der Republik eingehe, möchte ich noch | |
| nachtragen: Holger und ich haben das womöglich einzige „Wahllokal auf | |
| Beinen“ gebildet. Ein Mann mit kaputter Bandscheibe konnte nicht aus seinem | |
| Auto aussteigen vor Schmerz, also haben wir die Urne zu ihm hingetragen. | |
| Das nennt man Service! Herr Gauck, rücken Sie mal schleunigst zwei | |
| Bundesverdienstkreuze raus! Für gehobene Bürgernähe. | |
| Ein weiterer Versuch, die Wahlbeteiligung zu steigern, scheiterte | |
| allerdings: Der per Lokalradio verbreitete Hinweis an ein Geburtstagskind | |
| in unserem Stimmbezirk, wir hätten noch Schokoplätzchen, wenn es denn mal | |
| zum Wählen antanzte. Hmm, lecker Schokokekse. Das muss doch als Lockmittel | |
| funktionieren. Tat es aber nicht. | |
| Vierzig Euro „Erfrischungsgeld“ zahlt meine ehrenwerte Stadt ihren | |
| ehrenamtlichen Wahlhelfern. Leider reichte selbst das nicht, sich das | |
| Wahlergebnis schönzusaufen. Deshalb hätte ich einen Vorschlag fürs nächste | |
| Mal: Der Souverän bleibt einfach mal gemütlich zu Hause. Der Holger, der | |
| Sven und ich – wir regeln das dann schon. | |
| 23 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Milk | |
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