# taz.de -- Neustart am Schauspiel Leipzig: Vermisst wird das Wagnis | |
> Mit sechs Premieren versucht der neue Intendant Enrico Lübbe am | |
> Schauspiel Leipzig Vielfalt zu demonstrieren. Doch zu viel bleibt | |
> oberflächlich. | |
Bild: „Und dann“ von Wolfram Höll, ein Text über die Wendezeit, inszenier… | |
Sechs Premieren in drei Tagen – Enrico Lübbe, der neue Intendant am | |
Schauspiel Leipzig, hat sich zum Massenstart entschlossen. Der ehemalige | |
Schauspieldirektor aus Chemnitz beerbt den umstrittenen Regisseur Sebastian | |
Hartmann. Politischer Dilettantismus bei der Intendantensuche hat das Amt | |
beschädigt. Das ist eine schwierige Ausgangslage: Lübbe muss unter Hartmann | |
verlorenes Publikum zurückgewinnen, ohne aber die jungen Leute, die unter | |
Hartmann ins Theater gekommen sind, zu vergraulen. | |
Der Start ist erfrischend. Die freie Gruppe Monster Truck aus Berlin, | |
erster Gast einer neuen Reihe Artist-in-Residence, präsentiert mit „Who’s | |
There“ den perfekten Einstieg. Jeder Zuschauer wird einzeln in ein | |
Twin-Peaks-Kabinett aus roten Vorhängen und schwarz-weißen Boden geführt | |
und unversehens öffnen sich die Vorhänge, hinter denen gierige Augen auf | |
den Gast fallen. Zuschauer? Spieler? Die Rollen vertauschen und mischen | |
sich, zumal die Berliner detailreichen Surrealismus im Gepäck haben. Ein | |
guter Anfang. | |
Ambivalenter stellen sich die beiden Uraufführungen der Eröffnung dar. Das | |
Auftragswerk „Der Lärmkrieg“ von Kathrin Röggla ist rollenbasiertes | |
Diskurstheater. Eine Aktivistin (Dorothea Arnold), ein Flughafenmensch | |
(Andreas Keller) und ein Gast/Makler (Tilo Krügel) diskutieren in | |
Trainingsanzügen, umgeben von Eigenheimgestellen, in denen das Publikum | |
sitzt, das Für und Wider der Frankfurter Flughafenerweiterung. | |
## Egoismus oder gesellschaftliche Reform? | |
Kernfrage: Sind die Proteste von Villen- und Eigenheimbesitzern nur | |
egoistische Strategien oder handelt es sich um gesellschaftlich relevante | |
Reformbewegungen? In der Mitte der etwa 80 Minuten langen Aufführung ist | |
dazu alles gesagt, auch zwei neu eingeführte Figuren führen nicht weiter. | |
Sprachduktus und Spielweise bleiben unverändert. Das Private, das | |
Politische, alles wird zu einem Brei. Lediglich das Schlussbild gelingt dem | |
Regisseur Dieter Boyer, aber die Ziellinie erreicht das Stück nicht. | |
Wesentlicher souveräner ist der Umgang von Claudia Bauer mit dem | |
poetisch-verkapselten und mehrfach preisgekrönten Text „Und dann“. Der | |
Autor Wolfram Höll beschreibt darin die Wendezeit mit fehlender Mutter im | |
ostdeutschen Plattenbau aus Kindersicht – mehr Sprachkomposition denn | |
Drama. Bauer übersetzt dies in eine ebenso künstliche wie anmutige | |
Bühnensprache. | |
## Menschliches Puppentheater | |
Die Schauspieler tragen riesige runde Köpfe und sind grotesk ausgestopft. | |
Die Bühne ist das Skelett einer Plattenbauwohnung, in der sich die immer | |
gleichen Rituale des Alltags abspielen. Erinnerungen sind in kleinen | |
Episoden versteckt, die erzählt werden. Spiel und Text kommentieren sich | |
gegenseitig bei diesem menschlichen Puppentheater. Video und geloopte | |
Sounds (Musik: Peer Baierlein) sorgen für weitere Erlebnisebenen. Ein Abend | |
voller Theaterlust, der die Poleposition sichert. | |
Wie anders sind die beiden Klassiker auf der großen Bühne. Christoph Mehler | |
inszeniert einen „Othello“, und degradiert die Figuren zu platten | |
Abziehbildern. Lediglich Othello (André Willmund) und Jago (Mathis | |
Reinhard) dürfen in den 90 Minuten als Charaktere agieren. Immerhin visuell | |
ist das Setting überzeugend. Othello thront zunächst in einem | |
raumgreifenden Wasserbecken (Ausstattung: Nehle Balkhausen) nur als dunkle | |
Silhouette sichtbar und ähnlich erhaben wie das Völkerschlachtdenkmal. | |
Erst der gedachte Betrug lässt den Feldherrn buchstäblich zum Tier werden. | |
Er entledigt sich Kleidung und Konventionen und wühlt sich schnaufend, | |
beinahe grunzend durch die Welt, um die blasse Desdemona (Pina Bergemann) | |
zu erwürgen. Auflösung und Suizid sind aber gestrichen. | |
Enrico Lübbes „Emilia Galotti“ entpuppt sich als uninspiriertes Steh- und | |
Sprechtheater. Während im Hintergrund sechs graue Stelen ihre Bahnen ziehen | |
und immer neue Licht- und Schattenspiele ermöglichen (Bühne: Hugo Gretler), | |
stehen die Schauspieler zumeist an der Rampe und sprechen den Text frontal | |
nach vorne, um hin und wieder in ekstatischen Gefühlsausbrüchen zu enden. | |
Nach 90 Minuten ist der Spuk vorbei und die Frage im Raum: Warum das alles? | |
Das Publikum applaudiert dennoch, trotz einiger Buhrufe, ausdauernd und | |
euphorisiert. | |
## Überzeugender in den kleinen Formaten | |
Wo steht es nun, das neue Schauspiel Leipzig? Enrico Lübbes Regisseure | |
haben etwas in den kleinen Formaten punkten können, das Geschehen auf der | |
großen Bühne muss aber als enttäuschender Fehlstart gewertet werden. | |
Sicher, das Ensemble ist und muss zusammenwachsen, aber aufseiten der Regie | |
ist mehr Wagemut und Spielwille nötig. Auch mit der Vielfalt war es nicht | |
weit her, die beiden Klassiker wirkten wie zwei Seiten einer Medaille: | |
groß, glatt und deklamatorisch. Enrico Lübbe hat noch viel Arbeit in seiner | |
ersten Intendanz vor sich. | |
7 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Torben Ibs | |
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