# taz.de -- Experimentalarchäologie: Pfeile mit Adlerfeder und Steinspitze | |
> Wenn Altertumsforscher Waffen ausbuddeln, rätseln sie oft, wie diese wohl | |
> einst von unseren Vorfahren benutzt wurden. Harm Paulsen probiert es | |
> einfach aus. | |
Bild: Harm Paulsen bei seinen Schießversuchen mit Pfeil und Bogen. | |
Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Indianerspiel, ist ernsthafte | |
wissenschaftliche Arbeit. Harm Paulsen unternimmt im Tollensetal, in | |
Mecklenburg-Vorpommern, mit seinen Wissenschaftlerkollegen und Studenten | |
der Universität Greifswald ein archäologisches Experiment. | |
Paulsen mutet rein äußerlich schon ein wenig an wie der legendäre | |
Wildwest-Trapper Daniel Boone. Mit ruhiger Hand legt er einen Pfeil aus | |
Eschenholz, Adlerfedern und einer Steinspitze auf die Sehnen seines Bogens. | |
Und zielt gekonnt auf einen Schweinerücken in rund 10 Meter Entfernung. | |
Zwei Schweinehälften haben die Wissenschaftler der Uni Greifswald für | |
diesen Tag bei einer Fleischerei besorgt und ins Tollensetal geschleppt. | |
Größe, Knochenbau und Rippenabstand sind dem eines menschlichen Körpers | |
vergleichbar. | |
Mit einem Surren schnellt das Geschoss von der Sehne. „Wie weit so ein | |
Bogen schießen kann? Überlegen Sie mal! Die Welt war damals grün. Durchweg | |
Wälder. Wie weit will man denn da mit einem Bogen schießen?“ Harm Paulsen | |
läuft mit federnden Schritten zu seinem Ziel. Die Wissenschaftler der Uni | |
Greifswald umringen die Schweinehälfte mit Fotoapparat, Zollstock, | |
Metalldetektor. Jeder Treffer des Bogenschützen wird aufs Genaueste | |
protokolliert. Wie weit hat er das tote Fleisch durchschlagen? Wurde der | |
Knochen gestreift? Welche „Verletzung“ hätte solch ein steinzeitliches | |
Geschoss bei einem Menschen oder Tier verursacht? | |
„Also da müssen am unteren Ende und an den Kanten der Rippen ganz | |
erhebliche Schnittspuren sein“, ist Harm Paulsen sicher. Der deutsche | |
Vorreiter der Experimentalarchäologie ist von Neugier getrieben. Bereits | |
mit zahlreichen solcher Experimente hat er das Leben unserer stein- und | |
bronzezeitlichen Vorfahren erforscht. In seiner Heimatregion | |
Schleswig-Flensburg baute Paulsen Jagdwaffen nach und probierte sie auch | |
aus. Mit bronzezeitlichen Arbeitsgeräten versuchte er die Fertigkeiten | |
frühzeitlicher Handwerker zu verstehen. Mit einem Einbaum überquerte er die | |
Ostsee. | |
Harm Paulsen will wissen, wie Dinge entstanden und wie sie funktioniert | |
haben. Die Archäologie wird eigentlich als die Wissenschaft der | |
unsichtbaren, im Boden verborgenen Dinge eingeordnet. Wer sich ihr | |
zuwendet, wird von den Kollegen in den Studierstuben gern als „Erdferkel“ | |
gehänselt. | |
## Die letzten Geheimnisse | |
Doch dieser Wissenschaftszweig gräbt seit dem Troja-Entdecker Heinrich | |
Schliemann nach materiellen Zeugnissen früherer Zeitalter der | |
Menschengeschichte. Aber erst mit einem Experiment entreißen die Forscher | |
ihren Fundstücken die letzten Geheimnisse. Wozu dienten die Waffen, | |
Schmuckstücke oder Werkzeuge? Wie tödlich waren die im Tollensetal | |
gefundenen Pfeilspitzen? | |
Paulsen und sein Kollege Sönke Hartz, ein weiterer Steinzeit-Spezialist vom | |
Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum Schloss Gottorf, haben nach den | |
Vorgaben der Greifswalder Forscher Pfeile mit Bronze-, andere mit | |
Steinspitzen nachgebaut. Nun schießt der Schütze sie mit seinem ebenso | |
nachgebauten Bogen auf der Wiese am Tollenseufer auf die toten Schweine. | |
Doch woher wussten die Experimentalarchäologen und Steinzeitwaffenbauer, | |
aus welchem Holz die Pfeile vor über 3.000 Jahren gefertigt waren? | |
Die Frage konnte ihnen Manuela Schuldt beantworten. Eine Greifswalder | |
Landschaftsökologin „mit Hang zur Archäobotanik“, wie sie es selbst | |
beschreibt. Die junge Wissenschaftlerin hat die gefundenen Pfeilspitzen | |
unter ihr Mikroskop gelegt. Und winzige Spuren von Holz entdecken können. | |
Theoretisch kämen mehrere Hölzer in Frage, die vor Jahrtausenden im | |
heutigen Norddeutschland für Pfeilbauer verfügbar waren. Und Manuela | |
Schuldt konnte nach ihrer botanischen Analyse der winzigen Holzreste in der | |
Tülle mit Bestimmtheit sagen: Das Schaftholz war Esche. | |
Eine Frage ist beantwortet – die nach dem Holz. Das interdisziplinäre | |
Projektteam aus Greifswald ist sich längst sicher: Auf der Wiese zwischen | |
dem Dorf Weltzin und der Tollense sind sie auf einen der wichtigsten | |
Fundorte in Europa gestoßen, an dem spannende Spuren aus der Stein- und | |
Bronzezeit erhalten blieben. Aufschreiben konnte damals noch keiner | |
Geschichte. | |
## Schwere Verletzungen | |
Vor 3.300 Jahren könnte hier ein Massaker verübt worden sein. Die | |
Ausgrabungen der Wissenschaftler haben Knochen von Menschen und Pferden ans | |
Licht gebracht. Die wiesen zum Teil schwere Verletzungen auf. „Wie erklären | |
wir einen schweren Oberschenkelbruch bei einem jungen Steinzeitmenschen?“, | |
fragt sich Prähistoriker Thomas Terberger. Heute würden Mediziner so eine | |
Verletzung als „high speed trauma“ diagnostizieren. Verursacht durch | |
Fahrrad- oder Motorradunfälle. | |
Thomas Terberger ist von Anfang an bei der Untersuchung des steinzeitlichen | |
Schlachtfeldes mit dabei. „Die Entdeckung dieser Fundstelle geht ja auf | |
einen Oberarmknochen zurück, in dem eine Pfeilspitze drinsteckte“, erinnert | |
er sich. „Wir müssen also nicht darüber diskutieren, ob diese auf einen | |
Menschen abgefeuert wurden. Wir wissen das!“, kann er mit Bestimmtheit | |
sagen. Es fanden sich bei den Knochen eben noch andere Pfeilspitzen, | |
baugleich denen, die Harm Paulsen auf die Sehne spannt. Teils aus Bronze, | |
teils aus Feuerstein. | |
Dieses Experiment soll helfen aufzuklären, ob hier wirklich eine | |
bronzezeitliche Schlacht stattgefunden hat. Wie warum welche Waffen von | |
Angreifern und Verteidigern verwendet wurden. „Haben die Feuersteinspitzen | |
eine andere Aufgabe, eine andere Schusswirkung?“ | |
## Höhere Durchlagkraft | |
Diese These konnte mit diesem Experiment eindeutig bewiesen werden. | |
Gegenüber den gegossenen, glatten Bronzepfeilen haben die gezahnten | |
Feuersteinspitzen für jeden sichtbar eine viel höhere Durchschlagskraft. | |
Doch jede Antwort bringt die Wissenschaftler auch auf neue Fragen. | |
Wurden im Tollensetal vielleicht Reisende von Wegelagerern in einen | |
Hinterhalt gelockt? Trafen verfeindete Völker aufeinander? Die Erforscher | |
der menschlichen Frühzeit würden nur zu gern solchen Fragen nachgehen: | |
„Können das auch unterschiedliche Gruppen gewesen sein. Die einen besser | |
ausgestattet als die anderen?“, stellt Thomas Terberger zur Diskussion. | |
Oder trafen hier in der Übergangszeit zwischen Stein- und Bronzeepoche zwei | |
Gruppen mit verschiedenen „Technologien“ aufeinander? | |
Praktiker Harm Paulsen hingegen vermutet, die Schützen haben je nach | |
Situation ihre Wahl getroffen: Bronze oder Flintstein – Pistole oder | |
Vorderlader? Er glaubt, die verschieden wirkenden Waffen steckten im selben | |
Köcher. | |
4 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ralph Schipke | |
## TAGS | |
Wissenschaft | |
Schwerpunkt Türkei | |
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