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# taz.de -- Bürgermeisterwahlen in New York City: Big Apple und die soziale Fr…
> Der Linke Bill de Blasio hat am Dienstag gute Chancen auf den
> Bürgermeister-Posten der Metropole. Er verspricht ein „Ende der
> Zweiteilung der Stadt“.
Bild: Viele New YorkerInnen wünschen sich vom Demokraten Bill de Blasio mehr s…
NEW YORK taz | An guten Tagen setzte Tami Tyree mit einem einzigen Verkauf
20.000 Dollar um. In den Geschäften an der 5th Avenue in Manhattan, wo sie
Designerkleidung, Pelze und Juwelen verkaufte, ist das nicht ungewöhnlich.
Sie trug hochhackige Pumps. Ihr Grundlohn lag über 60.000 Dollar im Jahr.
Und sie leistete sich jede Woche einen Frisör. Es war, sagt Tami Tyree im
Rückblick auf jene 20 Jahre im Einzelhandel, eine „fantastische Karriere“.
Während sie in relativem Luxus lebte, braute sich an der Basis in New York
etwas zusammen, das aller Voraussicht nach bei den Bürgermeisterwahlen am
Dienstag zu einem Linksruck führen wird. Beinahe 20 Jahre lang galt eine
Politik von Law und Order, in denen erst der Republikaner Rudy Giuliani und
später der vom Demokraten zum Republikaner zum Unabhängigen gewordene
Milliardär Michael Bloomberg New York im engen Einvernehmen mit
Bauunternehmen und Wallstreet regiert haben. Dieses Mal wird die Stadt
allen Umfragen zufolge wieder einen Demokraten wählen.
Bill de Blasio heißt der Mann, der in seiner Kampagne Töne angeschlagen
hat, die an die der Occupy-Wallstreet- und Gewerkschaftsbewegung erinnern.
Er stellt mehr soziale Gerechtigkeit und weniger Rassismus in Aussicht.
Löhne, die zum Leben ausreichen. Höhere Steuern für Spitzenverdiener. Und
ein Ende der „Stop und Frisk“-Kontrollen, die vor allem junge Männer
treffen, die nicht weiß sind. Der 52-jährige Bill de Blasio hat nicht
weniger angekündigt als das Ende der „Zweiteilung der Stadt“.
## Gegensätze in Manhattan
In New York City leben einige der reichsten Menschen der USA. Zugleich
haben 46 Prozent der New Yorker Einkommen, die entweder unter oder nur
knapp oberhalb der Armutsgrenze liegen. Am schärfsten prallen diese
Gegensätze im Bezirk Manhattan aufeinander. Dort verdienen die „oberen“ 5
Prozent der Bewohner durchschnittlich 800.000 Dollar im Jahr – das ist
83-mal so viel wie die 20 Prozent am unteren Rand, die mit je 9.600 Dollar
auskommen müssen.
Tami Tyree gehört zu denjenigen, die den politischen Wechsel an der Spitze
der Stadt mit angebahnt haben. Im Alter von 50 Jahren entscheidet sie sich,
die 5th Avenue hinter sich zu lassen. Seit Kindheitstagen hat sie Gospel,
Blues und Jazz gesungen, fortan gibt sie Konzerte und unterrichtet
Schulkinder. Und sie entdeckt, wie miserabel die Arbeitsbedingungen für
Hunderttausende Kollegen sind – ein Schock.
Zu dem Zeitpunkt ihres Karrierewechsels – Ende des letzten Jahrzehnts –
entstehen im Einzelhandel in New York immer noch neue Arbeitsplätze. Selbst
auf dem Höhepunkt der Rezession ist der Einzelhandel der am schnellsten
wachsende Wirtschaftssektor der Stadt. Aber die Beschäftigten erhalten
meist nur den Mindestlohn – 7,25 Dollar pro Stunde.
Hinzu kommen Arbeitszeiten auf Abruf – bei denen die Beschäftigten erst am
Abend vorher erfahren, ob sie gebraucht werden oder nicht. Manche werden
auch noch am Arbeitstag selbst nach Hause geschickt, weil es regnet oder
die Kunden aus anderen Gründen ausbleiben. Hinzu kommt erzwungene
Teilzeitarbeit – weil die Arbeitgeber die Sozial- und Gesundheitsabgaben
einsparen wollen.
Kein Anspruch auf Krankentage. Und das Risiko, jederzeit wegen
Kleinigkeiten entlassen zu werden. Zum Überleben im teuren New York City
ist ein großer Teil der Beschäftigten im Einzelhandel auf staatliche
Sozialleistungen angewiesen: Heizungsbeihilfen. Medikamentenbeihilfe für
Kinder. Steuernachlässe. Und Lebensmittelmarken, die 1,7 Millionen New
Yorker beziehen.
## Kampf gegen Walmart
Tami Tyree gibt Solidaritätskonzerte. Arbeitet mit der Gruppe „Retail
Action Project“ zusammen, die Beschäftigte dort organisiert, wo die
Arbeitgeber keine Gewerkschaft erlauben. Und sie geht mit zu
Demonstrationen vor den Toren von „Walmart“ im Nachbarbundesstaat New
Jersey. Die Demonstranten wollen verhindern, dass der größte
Einzelhandelskonzern der Welt nach New York City expandiert. „Walmart“ ist
für Tami Tyree der schlimmste von allen. Er zahlt die schlechtesten Löhne.
Verlangt größte „Flexibilität“. Und verbietet gewerkschaftliche
Aktivitäten.
Während die Medien vor allem ins Zentrum der Stadt, nach Manhattan,
schauen, bestimmt hinter den Kulissen ein anderer Bezirk die soziale
Debatte: die Bronx. Dort bringt ein Zusammenschluss aus Kirchenleuten,
Gewerkschaften und Geschäftsleuten im Jahr 2009 ein
300-Millionen-Dollar-Projekt für eine neue „Mall“ zu Fall. Die
Bürgerinitiative verlangt, dass Bauherren, die, wie im Fall des „Armory“,
massive öffentliche Subventionen erhalten, im Gegenzug verpflichtet werden,
„Living Wages“ (Löhne, die genug zum Leben sind) an künftige Beschäftigte
zu zahlen.
In Zahlen bedeutet dies, dass jeder Beschäftigte in der Mall mindestens 10
Dollar Stundenlohn plus Krankenversicherung erhalten soll. Bürgermeister
Bloomberg und die Bauherren, die während seiner Amtszeit bereits andere
Großprojekte in New York realisiert haben, lehnen Verhandlungen ab. Der
Living Wage würde künftige Geschäftsleute als Mieter abschrecken,
argumentieren sie.
Die Bürgerinitiative bleibt hartnäckig. Sie bewegt den Stadtrat von New
York City zu einem klaren Nein. Für Bloomberg ist es eine große Niederlage.
Erst Jahre später kommt eine andere kommerzielle Nutzung für das „Armory“,
wo die Mall entstehen sollte, ins Gespräch.
## 2012 kam das Gesetz
Bei dieser Auseinandersetzung in der Bronx kristallisieren sich die
Spielregeln für ein Gesetz über Living Wages in New York City heraus. Im
Jahr 2012 tritt es in Kraft. Es legt fest, dass Bauunternehmen, die
Subventionen von einer Million Dollar – oder mehr – erhalten, im Gegenzug
Stundenlöhne von 10 Dollar plus Sozialleistungen zahlen müssen. Das ist ein
Drittel mehr als der Mindestlohn.
„Wenn wir ihnen so viele Steuergelder geben“, erklärt Dan Diaz, „ist es
inakzeptabel, dass sie anschließend Löhne zahlen, von denen niemand leben
kann.“ Der 44-Jährige ist ein Produkt der Bronx. Seine Eltern kommen aus
Puerto Rico und Ecuador. Er ist Sozialarbeiter mit Schwerpunkt
Drogenbetreuung und – dank einer Zusatzausbildung – auch Geistlicher.
Nebenbei versucht er, Beschäftigte im Einzelhandel zu organisieren.
Den mutmaßlich neuen Bürgermeister von New York City kennt Diaz persönlich.
Vor zwei Jahren war er zusammen mit Bill de Blasio in der Bronx unterwegs,
um Anwohner dazu zu ermuntern, illegale Waffen – notfalls anonym und gegen
Belohnung – anzuzeigen. „Ich beurteile Politiker nach ihrer Aktion“, sagt
Dan Diaz. De Blasio gehöre zu jenen, „die sich die Hände schmutzig machen�…
## Billige „Carwasheros“
Geistliche unterschiedlicher Konfessionen spielen in der New Yorker
Sozialbewegung eine zentrale Rolle. Viele sehen sich als gleichberechtigt
mit den schwach gewordenen Gewerkschaften. So standen Geistliche Ende
August neben Fast-Food-Beschäftigten vor McDonald’s-, Wendy’s- und
KFC-Läden, als sie für den ersten nationalen Streik der Branche
demonstrierten und 15 Dollar Stundenlohn verlangten.
Dan Diaz hat sich in der Bronx an der Kampagne der Autowäscher für Living
Wages beteiligt. Die „Carwasheros“, die mehrheitlich aus Lateinamerika
stammenden Beschäftigten der 196 Autowaschanlagen in New York City,
arbeiten in vielen Fällen für nur 4 bis 6 Dollar die Stunde. Ohne Vertrag
und ohne feste Arbeitszeit. Auf Abruf. In diesem Jahr, so berichtet Dan
Diaz stolz, habe er sieben „Carwasheros“ für die Gewerkschaft gewinnen
können. Es ist auch schon vorgekommen, dass Dan Diaz mit anderen
Geistlichen vor einer Waschanlage eine „Gebetswache“ veranstaltet hat, um
einen Arbeitgeber dazu zu bringen, ausstehende Löhne zu zahlen oder eine
Bestrafung zurückzuziehen.
Die Autowaschanlage des großen Betreibers John Lage in der Süd-Bronx ist
nur wenige Schritt von der Straße entfernt, wo 1999 der unbewaffnete
Guineer Amadou Diallo von der New Yorker Polizei erschossen wurde. Die
Beschäftigten der Waschanlage haben es vor ein paar Wochen geschafft, einen
Vertrag zu erhalten, der ihnen 6,21 Dollar Stundenlohn zusichert. Plus
Trinkgeld, das zunächst in einer silbrig glänzenden Kiste verschwindet, zu
der nur das Management den Schlüssel hat.
Ein Autowäscher aus El Salvador sagt, dass er 60 Stunden die Woche arbeiten
muss, wenn sein Boss das verlangt. Und dass er an anderen Tagen nach Hause
geschickt wird, weil niemand kommt. Für seine beiden Kinder reicht sein
Einkommen selbst bei einer 60-Stunden-Woche nicht: Die Familie ist auf
Lebensmittelmarken angewiesen.
Dass am Dienstag in New York City, in der Stadt, in der er seit zwölf
Jahren lebt, Wahlen stattfinden, hat sich nicht bis zu ihm herumgesprochen.
Aber der junge Familienvater hat einen Rat an den künftigen Bürgermeister:
Löhne, von denen man leben kann.
## Er soll „standhaft bleiben“
„Es ist so ungerecht“, sagt Tami Tyree über die Beschäftigungsbedingungen
ihrer Kollegen. Sie hat in ihrer Zeit als Verkäuferin zwei Kinder bekommen.
Sie weiß, wie kompliziert es sein kann, als Berufstätige die
Kinderbetreuung zu organisieren. Zumindest musste sie keine Babysitter für
die Tage bezahlen, an denen sie dann selbst – ohne Lohn – zu Hause war.
Sie erklärt die Situation damit, dass die großen Einzelhandelsunternehmen
die Lage nach dem 11. September, als der Tourismus in New York in den
Keller ging, ausgenutzt haben, um die Lohnkosten zu senken. Und dass sie
daran festgehalten haben, als die Rezession begann. „In diesem
Jahrtausend“, sagt Tami Tyree, „ist es einfach nicht besser geworden.“
Seit sie mit ihrem Engagement als Aktivistin an der Seite von Beschäftigten
im Einzelhandel begonnen hat, ist sie bei immer größeren politischen
Veranstaltungen aufgetreten. Zuerst in Kirchen. Zuletzt, als das Gesetz
angenommen wurde, vor dem Rathaus von New York. Bei solchen Gelegenheiten
singt sie: „Victory Shall Be Mine“ und „We Shall Overcome“.
## Wird er standhaft bleiben?
Von Bill de Blasio, dem aussichtsreichsten Kandidaten für den
Bürgermeisterposten in New York, den sie bei Demonstrationen kennengelernt
hat, hofft sie, dass er standhaft bleiben wird gegenüber McDonald’s und
Walmart. Natürlich weiß sie, dass er in der Demokratischen Partei schon in
unterschiedlichen Flügeln gearbeitet hat. Unter anderem auch für Hillary
Clinton. Und nicht immer die gleichen Reden geschwungen hat wie heute,
wonach die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.
Tami Tyree will unter de Blasio weiterhin die Sache des Living Wage
verteidigen. Sie wird dafür singen, Reden halten, Interviews geben. Bloß an
einem Ort in New York will sie nicht demonstrieren. Die Straße, in der sie
früher gearbeitet hat. Als ihre Freunde von der Living-Wage-Campaign sie
zur 5th mitnehmen wollen, winkt sie ab. „Die 5th Avenue hat mich gut
behandelt“, sagt sie.
5 Nov 2013
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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