# taz.de -- Segregation in Schweden: Nachtwanderer auf Patrouille | |
> Vor sechs Monaten brannten im Stockholmer Vorort Tensta Autos und Häuser. | |
> Nun ist es dort, in der ersten Anlaufstelle für Einwanderer, wieder ruhig | |
> – scheinbar. | |
Bild: Die Randale im Mai war ein „Schrei nach Hilfe“, sagt „Fältassisten… | |
STOCKHOLM taz | Es ist nachts wieder ruhig in Tensta. Manchmal brennt ein | |
Auto oder klirren ein paar Scheiben, aber das war auch vorher schon so, | |
berichtet Amanuel. Vor den Krawallen im Mai, als in Tensta Autos brannten, | |
Steine flogen, Polizei aufmarschierte. | |
Amanuel Us, klein und durchtrainiert, und sein ihn um einen Kopf | |
überragender Kollege Feseha Berhane werden an diesem Freitagabend wieder | |
durch die Straßen in Tensta streifen und dafür Sorge tragen, dass es | |
friedlich bleibt. | |
Amanuel und Feseha sind Streetworker, auf Schwedisch: Fältassistenten. Sie | |
reden mit den Jugendlichen, die draußen abhängen, und halten den Kontakt | |
zur Polizei, zur Gemeinde und zu den freiwilligen Bürgerpatrouillen: den | |
Nattvandraren, Nachtwanderern. | |
Im Mai hat es in ganz Schweden Randale gegeben. Auslöser dafür war der Tod | |
eines 69-jährigen Mannes, den Polizisten im Stockholmer Stadtteil Husby | |
erschossen hatten, als er sie mit einem Messer bedrohte. Notwehr hieß es | |
von Seiten der Polizei, als Rassismus bezeichneten es die Anwohner. Von | |
Husby sprangen die Unruhen ins benachbarte Tensta, bis nach Malmö und | |
Göteborg über. Brennende Vororte in Schweden, im Vorzeige-Wohlfahrtsstaat? | |
Ausländische Medien berichteten irritiert. | |
## Insel zwischen zwei Schnellstraßen | |
Nur zwanzig Minuten dauert die Fahrt mit der blauen U-Bahn-Linie vom | |
Stockholmer Stadtzentrum gen Norden. Nach acht Stationen sind die schicken | |
Büromenschen ausgestiegen, die Übrigbleibenden sind meist dunkelhäutig, | |
tragen Sportkleidung oder einen langen Regenmantel. Jeder vierte Bewohner | |
Stockholms hat Migrationshintergrund, in Tensta sind es über 80 Prozent. | |
In den 70er Jahren hingeklotzt, um die Wohnungsnot zu beheben, liegt Tensta | |
wie eine Insel aus Beton auf einer grünen Wiese zwischen zwei | |
Schnellstraßen. Feseha Berhanes Eltern sind vor gut 30 Jahren aus Eritrea | |
hierher gezogen. „Damals war ich hier ein Exot“, sagt Feseha, dessen Haare | |
in kleinen Zöpfen vom Kopf abstehen. „Heute bist du einer, wenn du weiß | |
bist.“ Feseha lächelt. Er lächelt viel. Aber seine Stimme klingt ernst. | |
In dem kleinen Nebenraum der Stadtbibliothek, der ihnen als Büro dient, | |
warten Feseha und Amanuel auf die freiwilligen Nachtwanderer. Es ist fast | |
21 Uhr. Ihre schwarzen Kapuzenjacken mit dem Schriftzug „Fältassistent“ | |
haben sie über die Stühle gehängt. Die Kaffeemaschine gibt ein Zischen von | |
sich, Amanuel steht auf und gießt Kaffee ein, für Feseha und sich. Es | |
kommen noch zwei Männer, die ein privater Sicherheitsdienst geschickt hat, | |
und eine Sozialarbeiterin. Eltern und Polizei tauchen nicht auf. „Es ist | |
sicher was passiert, ich habe vorhin einen Krankenwagen und Blaulicht | |
gesehen“, sagt Amanuel. „Gehen wir los.“ | |
## Die Tür zum Jugendclub ist abgeschlossen | |
Vororte wie Tensta gibt es in allen Großstädten Schwedens. Zuflucht für | |
jene, die sich die steigenden Wohnungspreise im Stadtzentrum nicht leisten | |
können. Und erste Anlaufstation für Einwanderer. 44.000 kamen allein im | |
Jahr 2012, die meisten aus Somalia, Afghanistan, Syrien und Eritrea. Von | |
hier aus versuchen sie ihren Weg in die schwedische Gesellschaft zu finden. | |
Nach Tensta reinzukommen sei leicht, meint die Chefin der | |
Kommunalverwaltung, Maria Häggblom, eine füllige Finnin. „Aber aus Tensta | |
rauszukommen ist verdammt schwierig.“ | |
Der Jugendclub „Blaues Haus“ ist Amanuels und Fezehas erste Station an | |
diesem Abend. Amanuel wummert gegen die blau gestrichene Tür des | |
Betonflachbaus. Er wartet. „Vor den Krawallen konnte man einfach reingehen, | |
aber jetzt schließen sie ab“, erklärt er. Die Tür wird aufgerissen, ein | |
Mann steht im Eingang, die Silhouette schwarz gegen das Licht von hinten. | |
Er trägt einen Schlüssel um den Hals und eine Holzkelle in der Hand. Hej, | |
Handflächen klatschen gegeneinander, die Männer umarmen sich. | |
Sie treten ein, Klaviermusik empfängt sie. „Nimm Kuchen, wir haben | |
gebacken“, sagt Halima. Sie ist 15 und hat sich die Kapuze so tief ins | |
Gesicht gezogen, dass nur ein schmaler Rand ihres Kopftuchs darunter | |
hervorlugt. Sie und ihre drei Freundinnen sind fast jeden Tag hier. Zu | |
Hause sei es eng, vier Brüder hat Halima und eine Schwester, mit der sie | |
sich ein Zimmer teilt. Der Jugendclub ist ein Stück Freiheit. „Wir chillen | |
hier und unterhalten uns. Zum Beispiel über Jungs.“ | |
## „Sie wissen nicht, wohin mit sich“ | |
In den Cafés und Restaurants in Tensta sitzen fast ausschließlich Männer, | |
viele Frauen tragen Kopftuch und lange Gewänder. Bei einigen jungen Männern | |
an der U-Bahn-Station wirkt der Hosenbund bedrohlich ausgebeult. Tragen sie | |
eine Waffe? „Oh ja, da draußen gibt es Leute, die machen richtig Stress“, | |
sagt Halima. „Aber wer sich danebenbenimmt, wird nicht mehr ins Blaue Haus | |
gelassen.“ | |
Was war die Randale also? Eine aus dem Ruder gelaufene Straßenparty von | |
Jugendlichen? Ein Rülpsen im Alltag? | |
„Ein Schrei nach Hilfe“, sagt Amanuel und nickt überzeugt. „Die Eltern | |
dieser Jugendlichen kamen nach Schweden, um hier hart zu arbeiten. Aber die | |
zweite und dritte Generation weiß nicht, was sie tun soll und wohin mit | |
sich.“ Amanuel nimmt sich selbst als Beispiel dafür, wie schwer es ist, Fuß | |
zu fassen in der Gesellschaft. Sohn syrischer Eltern, in Schweden geboren, | |
in Stockholm aufgewachsen und studiert. Vor einem Monat hat er seinen | |
ersten festen Job bekommen, als Sozialarbeiter bei der Gemeindeverwaltung. | |
„Ich bin 32 und jetzt erst angekommen.“ | |
Emmanuel Sebone kommt oft ins Blaue Haus, zum Klavierspielen. Der | |
19-Jährige macht bald Abitur, will studieren. Er und seine sechs | |
Geschwister sind in Stockholm aufgewachsen, die Familie ist aus Uganda. | |
„Schweden gibt mir viele Möglichkeiten“, sagt er, „aber gleichzeitig | |
diskriminiert man uns. Nicht offen, eher indirekt.“ Emmanuel fackelt keine | |
Autos ab, aber er versteht, warum manche so etwas tun. „Versuch mal, einen | |
Job zu bekommen. Meist bekommst du nicht mal eine Antwort.“ | |
Laut einer Studie der Universität Göteborg haben 40 Prozent der jungen | |
Leute in den Vororten keine Arbeit, mehr als die Hälfte der Kinder wächst | |
unter der Armutsgrenze auf. | |
## Der Müll ist weg | |
In Tensta tobten die Krawalle nicht so heftig wie in Husby. Der Bezirk ist | |
eher als Umschlagplatz für Marihuana, Kokain und Amphetamine berüchtigt. | |
Drogendealer haben kein Interesse an zu viel Aufmerksamkeit. | |
Amanuel legt einen Arm um Emmanuel. „Hej, mach mal ein Foto von uns. Der | |
Junge ist gut“, sagt er. Dann fahren die Sozialarbeiter mit Fesehas Kombi | |
weiter nach Akalla. | |
Hier waren die Auseinandersetzungen im Mai besonders heftig. An diesem | |
Abend wird nur ein ausgebranntes Autowrack vom Laternenlicht beschienen, | |
kein Mensch ist zu sehen. Vor einigen Monaten lag überall Müll herum, | |
berichtet Feseha, „unglaublich, wie die Stadt hier aufgeräumt hat“, sagt | |
er. | |
## Gegenseitiger Respekt | |
Nach 22 Uhr sind Feseha und Amanuel in Hjulsta angelangt, der letzten | |
U-Bahn-Station nach Tensta. Gegenüber dem Eingang zur Metro ist ein | |
Betonquader mit blinden Scheiben. Das war früher ein Jugendclub, sagt | |
Feseha. „Feseha war hier der Chef“, ergänzt Amanuel. Als der Club zumachte, | |
trafen sich die Jugendlichen weiterhin auf dem Platz davor. | |
Feseha und Amanuel kennen hier jeden, auch die Randalierer. „Es sind nicht | |
viele, die Stress machen, aber die machen dann richtig Stress“, sagt | |
Feseha. „Wir kennen sie, sie kennen und respektieren uns“, berichtet | |
Amanuel. Zwei Jungs kommen ihnen auf der Straße entgegen. Amanuel öffnet | |
das Fenster: „Alles klar bei euch? Was habt ihr noch vor?“ Er fragt lässig, | |
die Jungs antworten bereitwillig, einer lehnt sich ins geöffnete Fenster. | |
Ein Gespräch unter Kumpels. Für Amanuel ist das Teil des Jobs. Er stellt | |
allen dieselben Fragen: was sie vorhaben, wohin sie unterwegs sind. Im | |
Grunde genommen machen sie das Gleiche wie Streifenpolizisten. Nur dass sie | |
für die Jugendlichen zwei Männer aus dem Viertel sind und keine | |
Repräsentanten der Staatsmacht. | |
Die Jungs verabschieden sich mit Handschlag von den beiden Nachtschwärmern, | |
Feseha gibt Gas und sie fahren weiter nach Spangna. Das Viertel gehört zur | |
selben Kommune und ist doch Welten von Tensta entfernt. Holzverkleidete | |
Einfamilienhäuser, in den Einfahrten parken Volvos. Während der | |
Sommermonate ist der Jugendclub von Spangna geschlossen, weil die meisten | |
Jugendlichen dann mit ihren Eltern in den Sommerhäusern der Familie Urlaub | |
machen. Feseha und Amanuel betreten den Club durch den Keller einer Schule. | |
Die Tür steht offen, jeder kann hinein. Es ist fast Mitternacht. | |
## Die Kids sind in Ordnung | |
Die Begrüßung ist freundlich, aber distanzierter als in Tensta. Die | |
Nachtwanderer bleiben nicht lange. In Spangna wird höchstens mal ein | |
Spielplatz mit Schnapsflaschen dekoriert. Feseha und Amanuel düsen zurück | |
nach Tensta. | |
„Willkommen in der Realität“, sagt Amanuel, als sie durch die Brücke | |
tauchen, die die Grenze markiert. Er klingt fast erleichtert. Er würde gern | |
immer in diesem Viertel arbeiten, sagt er. Feseha fügt hinzu: „Die Kids | |
hier sind nicht schlecht. Schlecht ist das System.“ | |
Amanuel Us lebt in Tensta, will aber möglichst bald wegziehen. Er will | |
einen Kredit aufnehmen, eine Wohnung kaufen, heiraten. Sein Kollege Feseha | |
Berhane ist bereits weggezogen, in einen weißen Mittelklassevorort. Er hat | |
es für seine kleine Tochter getan, sie soll bessere Chancen haben. „Hier in | |
Tensta sagen selbst die Einwanderer, dass es zu viele Einwanderer gibt.“ | |
18 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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