# taz.de -- Ehrenamt auf dem Strich: Auf einen heißen Tee mit Gummi | |
> Tagsüber arbeitet Saskia Wiemer als Anwältin in einer großen Hamburger | |
> Kanzlei. Nachts geht sie auf den Strich – um mit Prostituierten zu reden. | |
Bild: Die Frauen verkaufen Sex. | |
HAMBURG taz | Nach der Arbeit geht sie auf den Strich. Saskia Wiemer* trägt | |
eine Tasche mit sich, darin zwei Thermoskannen, Gummibärchen, Gleitgel und | |
Kondome. Reißfeste für Sex, dünne für Blowjobs. Die Tasche ist grau, nichts | |
Besonderes. Doch mit ihr wird Wiemer sofort erkannt. | |
Es ist Freitagabend kurz vor Mitternacht. Primetime auf der Süderstraße, | |
Hamburgs bekanntestem Autostrich. Hier macht die 31-Jährige „ihre Runde“, | |
wie sie sagt. Es windet und regnet in Schauern. Hamburgwetter, kurz vor der | |
Autobahn. Kein Fußgänger verirrt sich hierher, die Lagerhallen und leeren | |
Bürogebäude verwandeln die Straßen zur Geistergegend. Zwischen geparkten | |
Autos, in Abständen von mehreren hundert Metern, blitzen sie auf, die | |
künstlichen Glitzersteine auf ihren Jacken, klackern die hohen Absätze. | |
Wiemer hat die erste Frau entdeckt, geht langsam auf sie zu. Sie nennt sich | |
Julia, trägt weiße Stiefel bis zu den Knien, Netzstrumpfhose, darüber einen | |
engen Slip und eine taillierte, rosafarbene Daunenjacke. Wiemer ist nur | |
noch wenige Meter von ihr entfernt, da rollt ein Auto aus der | |
Tankstellenausfahrt – und stoppt vor Julia. Also Planänderung: „Wir gehen | |
jetzt mal ganz unauffällig dran vorbei“, sagt Wiemer. Das Geschäft zu | |
stören wird nicht gerne gesehen. Später wiederkommen schon. | |
Stunden zuvor, es ist kurz nach Mittag, trägt Saskia Wiemer einen dunklen | |
Hosenanzug, blonde, offene Haare und eine goldene Uhr am Handgelenk. Wiemer | |
ist Rechtsanwältin in einer der erfolgreichsten Großkanzleien in Hamburg. | |
Der Schreibtisch in ihrem Büro ist aus dunklem Holz. Darauf: Bildschirm, | |
Telefon, ein Locher. „Clean-Desk-Policy“, nennt sie das. | |
## Kakao, Süßigkeiten, Kondome | |
Zehn, elf, manchmal dreizehn Stunden am Tag liest sie Verträge, schreibt | |
Klagen oder verhandelt Unternehmensverkäufe in Millionenhöhe. Sie verdient | |
gut, lebt in einer hellen Wohnung in einem begehrten Stadtteil Hamburgs. | |
Sie könnte sich nach einer 60-Stunden-Woche am Freitagabend auf die Couch | |
legen oder in den teuren Bars der Stadt Cocktails trinken – doch sie geht | |
in eine kleine, verwinkelte Zweizimmerwohnung am Hans-Albers-Platz, nahe | |
der Reeperbahn. | |
In der alten Küche kochen sie und die anderen Helfer Tee und Kakao, füllen | |
die Taschen mit Süßigkeiten und Kondomen. Seit beinahe 35 Jahren machen sie | |
das, Wiemer ist seit zweieinhalb Jahren dabei. Sie ist eine von fünfzehn | |
Ehrenamtlichen der Teestube Sarah auf St. Pauli. Der Verein ist christlich | |
geprägt, finanziert sich aber ausschließlich über Spenden. Davon bezahlen | |
sie die Miete, Gottesdienste und den Tee. | |
Es war die Idee des verstorbenen Gründervaters Otto Oberforster, einem | |
österreichischen Werftarbeiter mit Wahlheimat Hamburg, den Frauen auf der | |
Straße einen Kontakt anzubieten, ein paar nette Worte, ein kurzes | |
Auftauchen aus der dunklen Welt am Straßenstrich. Die Ehrenamtlichen wollen | |
den Frauen ihre Arbeit ein klein wenig erleichtern. Deshalb lehnt Anwältin | |
Wiemer, als Expertin in Sachen Verbote, ein Prostitutionsverbot ab. Es | |
würde die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen weiter verschlechtern, da | |
ist sie sich sicher. „Kein Staat der Welt kann das kontrollieren“, sagt | |
sie. Ihr Vorschlag: „Den Frauen einen Weg zeigen.“ Bildung, Alternativen | |
anbieten, nicht-akademische Berufe besser bezahlen – letztlich aber: Die | |
Bedingungen so gestalten, dass die Frauen frei und sicher arbeiten und ihr | |
verdientes Geld behalten können. | |
Doch Geld verdienen ist für die Sexarbeiterinnen besonders an Feiertagen | |
schwierig, denn es halten nur wenige Autos an. Viele Männer sind in der | |
Weihnachtszeit mit ihren Familien unterwegs. Die eine Welt darf die andere | |
Welt nun mal nicht berühren. Wiemer und ihre Kollegen bringen diese andere | |
Welt für einen kurzen Moment zu ihnen. Sie sollen spüren, dass jemand für | |
sie da ist. Deshalb spricht Wiemer alle Frauen mit Namen an. Das sei ihr | |
wichtig, sagt sie, denn es zeige echtes Interesse. Trotz der vielen | |
Kolleginnen sind die Sexarbeiterinnen oft alleine. Ihnen fehlt, was für die | |
meisten Menschen selbstverständlich ist: über ihre Arbeit zu reden. | |
Auch Saskia Wiemer erzählt nur wenigen von ihrem Ehrenamt in der Teestube, | |
weshalb sie in der Zeitung nicht ihren echten Namen lesen will. In Wiemers | |
Kanzlei werden auch Bordellbetreiber vertreten – Männer, die auf Frauen wie | |
Julia „aufpassen“, wie es im Milieu so oft heißt. Wiemer versucht, solche | |
Mandanten an Kollegen abzugeben. „Ich kann nicht tagsüber jemanden bei der | |
Planung für seinen Puff beraten und drei Stunden später auf dem Strich mit | |
den Frauen sprechen“, sagt sie. | |
## Sexuelle Vorlieben der Kunden | |
Die nächste Frau, mit der Wiemer spricht, heißt Jessica. Wiemer begrüßt sie | |
mit einem „Frohes Neues“. Wiemer will sich nicht anbiedern. Die erste | |
Reaktion der Frauen reicht aus, um zu entscheiden: Bleibt sie stehen oder | |
geht sie weiter. Jessica lächelt und sagt: „Dir auch.“ Sie bekommt von | |
Wiemer einen Becher Kakao, Kondome will sie heute keine. Wiemer fragt nach | |
dem Weihnachtsfest. Jessica erzählt von ihrem Verlobten, von den Eltern, | |
die ihr unterstellen, auf Kosten des Freundes zu leben. „Die ahnen ja | |
nicht, woher das ganze Geld kommt“, sagt Jessica fast ein bisschen stolz. | |
Wiemer hört zu, nickt, sagt Sätze wie: „Das kann ich mir vorstellen.“ | |
„Vorstellen“, korrigiert sie sich später, „kann man sich das eigentlich | |
nicht.“ Sie erfahre Details von den Frauen, die wolle sie lieber wieder | |
vergessen. Sexuelle Vorlieben mancher Kunden zum Beispiel. Aber auch: ihre | |
Biografien. Auf der Süderstraße stehen in aller Regel keine | |
Zwangsprostituierten. Die Frauen werden nicht verschleppt, misshandelt oder | |
verkauft. Sie stehen freiwillig zwischen den Autos. So freiwillig, wie man | |
das eben nennen könne, sagt die Anwältin. Ihre Abhängigkeit besteht aus | |
Schulden, einer abgebrochenen Ausbildung, einer zerrütteten Familie – oder | |
schlicht aus dem Reiz des Geldes. | |
So ist es auch bei Nadja. Ihre Haare sind schwarz, die Fingernägel | |
glitzern. Jahrelang arbeitete sie als Verkäuferin. Anfangs kam sie nur am | |
Wochenende auf die Süderstraße – und stellte schnell fest, dass sie in | |
zwei, drei Nächten so viel verdient wie sonst in einem Monat im Laden. Das | |
war einmal. Auf ihrem Smartphone läuft eine Folge „Verbotene Liebe“. | |
„Früher war vieles einfacher“, sagt sie. Sie beklagt, dass Freier vor zehn | |
Jahren mehr bezahlt hätten. Auch auf dem Strich ist heute vor allem Geiz | |
geil. Wiemer steigt in das Thema ein und erzählt eine Geschichte aus ihrem | |
Leben, in dem auch manches teurer wird und viele weniger verdienen. | |
Irgendwie. | |
Trotzdem erzählt sie nichts über sich. Die Frauen wissen nicht, dass sie | |
von einer erfolgreichen Anwältin Tee ausgeschenkt bekommen, die ein Honorar | |
pro Stunde verlangt, das manche der Frauen in einer Nacht verdienen. Genau | |
das aber ist es, warum Wiemer in einer kalten Winternacht ihre rosa | |
Regenjacke anzieht. Sie will mit ihrem Ehrenamt etwas zurückgeben. Die Welt | |
ein bisschen besser machen. Eine bessere Welt – was aber soll das sein? | |
## Zugige Industriegebiete | |
Es ist vielleicht eine Welt, in der sich Menschen helfen, wenn sie können. | |
Wiemer kann. Und wenn es nur ein paar Stunden nach Feierabend sind. Das | |
vielleicht reiche schon. „Natürlich“, sagt sie, „ist es auch für mein | |
Gewissen. Als Anwältin bin ich nicht sozial.“ Doch Wiemer sieht in dem | |
Engagement ein Problem: Ihre Arbeit beweist, dass die Frauen auf dem Strich | |
Unterstützung brauchen. In welchem anderen Gewerbe müssen Ehrenamtliche | |
warme Getränke in zugigen Industriegebieten verteilen? | |
Fragt man die Frauen, sind sie froh über das Angebot der Teestube. Sie | |
vertrauen Wiemer und ihren Kollegen. Auch deshalb, weil sie ihnen nicht von | |
einem vermeintlich besseren Leben erzählen und sie damit zum Ausstieg | |
überreden wollen. | |
Über einen Ausstieg aber denkt Nadja, die ehemalige Verkäuferin, schon | |
lange nach. „Irgendwann muss Schluss sein“, sagt sie. Der Regen hat | |
nachgelassen. Saskia Wiemer packt die Thermosflasche ein und hängt die | |
Tasche über ihre Schulter, da erzählt Nadja, dass sie sich zu einer | |
Ausbildung als Friseurin entschieden hat. Die beiden Frauen werden sich | |
wohl schon bald nicht mehr auf der Süderstraße sehen. Saskia Wiemer | |
antwortet nicht. Sie lächelt. | |
*Name vom Autor geändert | |
14 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Felix Hütten | |
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