| # taz.de -- 50 Jahre „Der eindimensionale Mensch“: Rote Rosen für Marcuse | |
| > Vor 50 Jahren erschien Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“. Das | |
| > Buch befeuerte die sozialen Bewegungen wie kaum ein anderes. | |
| Bild: Viel zitiert, nur selten gelesen? Herbert Marcuse. | |
| Wenn man Mitte der sechziger Jahre in die politischen und soziologischen | |
| Milieus nach Frankfurt kam, wurde man ziemlich bald gefragt, ob man den | |
| „One-Dimensional Man“ gelesen hätte. Wer sich für die damalige | |
| Leitwissenschaft Soziologie interessierte, hatte gerade die beiden | |
| Suhrkamp-Bändchen von Herbert Marcuse, Nr. 101 und 135, „Kultur und | |
| Gesellschaft“ verschlungen, in denen seine Essays aus den dreißiger Jahren | |
| in der Zeitschrift für Sozialforschung wieder abgedruckt waren. | |
| Für Kenner war ein Zusammenhang des Gemeinschaftsprojekts „Kritische | |
| Theorie“ aus der Mitte der dreißiger Jahre mit der aktuellen Soziologie | |
| Herbert Marcuses und der sogenannten Frankfurter Schule deutlich erkennbar. | |
| „One-Dimensional Man“ wurde 1964 in Europa als aktuelle amerikanische | |
| Sozialforschung rezipiert. | |
| Tatsächlich war das Buch auf dem neuesten Stand der Technik- und | |
| Industriesoziologie; aber Marcuse verband das soziologische Wissen der | |
| Gegenwart mit geschichtsphilosophischem Reflexionsvermögen, das sich nicht | |
| den starren Grenzziehungen des Kalten Krieges beugte. Marcuse folgte nicht | |
| dem damals gängigen Ost-West-Schema, sondern entwickelte eine | |
| Totalitarismuskritik sui generis. | |
| ## Die Varianten der Modernisierung | |
| Nationalsozialismus, Sowjetsystem und die amerikanische | |
| Industriegesellschaft erscheinen als Varianten von Modernisierung. In den | |
| erstgenannten beiden Gesellschaften wird die Eindimensionalisierung mit | |
| Terror herbeigeführt, während sie in der letzten mit einer Verfeinerung der | |
| Herrschaftsmethoden erreicht wird. | |
| Kultur und Gesellschaft werden ihres kritischen Potenzials beraubt. Die der | |
| Öffentlichkeit unbekannte „Dialektik der Aufklärung“ wird an der | |
| fortgeschrittensten Gesellschaft der Gegenwart, den USA, explizit gemacht. | |
| Furore machten die letzten zwei Seiten, die für traditionelle Marxisten | |
| schwer zu schlucken waren – die sogenannte Randgruppentheorie: Die | |
| Arbeiterklasse wird als systemstabilisierend begriffen, der | |
| gesellschaftliche Widerspruch ist am Rande der Gesellschaft zu erkennen, an | |
| den „Geächteten und Außenseitern“. | |
| ## Die Randgruppentheorie | |
| Das wurde missverstanden, als wolle Marcuse das revolutionäre Proletariat | |
| aus dem 19. Jahrhundert als revolutionäres Subjekt durch „Randgruppen“ | |
| ersetzen. Weit gefehlt; sein Hinweis ist ein Reflex auf die | |
| Widerspruchsstruktur der amerikanischen Gesellschaft; auf die | |
| Bürgerrechtsbewegung, die Marcuse 1965 mit seinem fulminanten Essay | |
| „Repressive Toleranz“ in Schutz nahm. Dieser Titel wurde 1968 zu einem | |
| Welthit. | |
| Der „One-Dimensional Man“ trug 1964 Marcuse eine Einladung zum Heidelberger | |
| Soziologentag ein. Er sprach über „Industrialisierung und Kapitalismus im | |
| Werk Max Webers“, das Adorno noch 1968 als „Meisterwerk“ bezeichnete. Les… | |
| des „One-Dimensional Man“ wussten um den Zusammenhang von Max-Weber- und | |
| aktueller Gesellschaftskritik. | |
| Eine junge Genossin vom Frankfurter SDS (Sozialistischer Deutscher | |
| Studentenbund) überreichte am Ende des Vortrags einen Strauß roter Rosen. | |
| Noch war Herbert Marcuse in Deutschland unbekannt und wurde mit Ludwig | |
| Marcuse verwechselt. | |
| ## Drei Jahre später auf deutsch | |
| 1967, als „Der eindimensionale Mensch“ auf Deutsch erschien, wurde das | |
| anders. Zu den Teach-ins nach dem 2. Juni kamen in Berlin Tausende. Noch | |
| überwältigender war der publizistische Erfolg in Frankreich und Italien. | |
| Nach dem Mai 1968 wurden in Frankreich 80.000 Exemplare verkauft. Man | |
| glaubte mit Marcuse die Revolte erklären zu können – auch ein | |
| Missverständnis. Wie Daniel Cohn-Bendit mir bald darauf erzählte: „Kein | |
| Mensch hatte bei uns das Ding gelesen.“ | |
| 14 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Detlev Claussen | |
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| Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt | |
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