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# taz.de -- Pay-per-minute-Café in London: Nach Moskauer Zeitrechnung
> An der Themse ist derzeit ein Café, in dem man nur für den Aufenthalt
> bezahlt, der letzte Schrei. Sein Besitzer hat die Idee aus Russland
> exportiert.
Bild: Unscheinbar im Hipster-Quartier: Café Ziferblat.
LONDON taz | In der Old Street im trendigen Stadtteil Shoreditch hat gerade
ein neues Etablissement aufgemacht. Auf einem unscheinbaren kleinen
Schaufenster steht Café Ziferblat. An der Haustür, ein handgeschriebener
Hinweis: „Bitte nicht anderswo klingeln“! Die Gäste müssen sich über eine
schmale Treppe in den ersten Stock des Altbaus bemühen, denn dort befindet
sich das Café in einem ehemaligen Büroraum.
Das Ziferblat, russisch für Zifferblatt, ist trotz der Neueröffnung kein
Geheimtipp mehr, denn alle wichtigen britischen Medien haben bereits
darüber berichtet. Dementsprechend ist es gut besucht. Auch Momos graue
Männer könnten in dem Café Stammgäste werden, denn dort lässt sich nichts
anderes als Zeit kaufen.
Getränke gibt es gratis und müssen in der kleinen Küche selber zubereitet
werden, wer will darf auch abwaschen. An den Tischen wird geredet oder an
Laptops gearbeitet. An der Wand hängt seltsamer Origamischmuck aus
Tapetenresten. In Vitrinen und auf Regalen befinden sich vor allen Uhren
und Wecker „zur Zeitmessung“.
Ein Aufenthalt im Ziferblat kostet drei Pence pro Minute, umgerechnet etwa
2,10 Euro pro Stunde. In einer Keksdose darf man auch Spenden hinterlassen.
Aus einer alten Stereoanlage, gespeist durch ein mit ihr verbundenes
Laptop, dröhnen Schlager und hin und wieder ein russisches Liedchen, denn
schließlich stammt Ziferblat-Mitbesitzer und Gründer Ivan Mitin nicht nur
aus Moskau, sondern hat dort und in der Ukraine schon neun andere
Ziferblats aufgebaut.
Der 29-jährige etwas schmächtige Kaffeehausbesitzer mit Schnurrbart gibt
sich bescheiden: „Ich bin den Maximalismus leid und außerdem überhaupt kein
Geschäftsmann“, betont er. „Mein Ziel ist es nur, urbane entspannte Räume
des Zusammenlebens zu schaffen – eine Wohnzimmeratmosphäre“! Ohne das
Kapital seines Geschäftspartners aus der ukrainisch-russischen Bauindustrie
hätte er seine Idee aber nie realisieren können. Nach London soll nun
Berlin folgen.
## „Toll ist, dass es nicht elitär ist“
Wie kommt es, dass Ivans Geschäftsmodell hier so gut anzukommen scheint?
„Wir sind doch alle Kinder des Internetzeitalters und gewöhnt, Privates mit
Fremden auszutauschen", meint Ivan. „Ziferblat ist eine Erweiterung, ein
geruhsamer Ort, der den wirklichen Menschenkontakt will und fördert.“
Unter den Gästen finden sich auch schon Exildeutsche. Student Billy
Holzberg, 24, aus Hamburg und sein englischer Kumpel haben vom Ziferblat
erst gestern gelesen und sind gleich heute hergekommen. „Toll ist, dass es
nicht elitär ist. Meist muss man in London einiges ausgeben, um überhaupt
irgendwo sitzen zu können, es ist alles nur Business“, bemerkt Billy.
Michael, ein 28-jähriger Medienwissenschaftler, wohnt gleich um die Ecke
und besucht regelmäßig Cafés zum Arbeiten. Sein Urteil: „Die Atmosphäre
hier ist nett, und es ist günstiger als die meisten anderen Orte. Für einen
guten Kaffee gehe ich aber lieber in ein unabhängiges Spezialcafé.“
Irgendjemand muss das auch Ivan schon gesteckt haben. Er verhandelt gerade
mit lokalen Kaffeeröstereien. Bis jetzt stammt sein Angebot noch aus dem
Supermarkt.
An einem Fenstertisch unterhalten sich Katharina Shalabonova und Maria
Olinina, beide 24 und ursprünglich aus Russland. „Es erinnert mich hier
alles an die Szenecafés in Moskau“, bemerkt Maria stolz, weil Russlands
Metropole in London jetzt als „cool“ zu gelten scheint. Auch einem anderen
Gast, Jerry Newton, 25, gefällt es hier: „Sieht alles aus, wie ein
improvisierter Kaffeeschuppen ohne Profitambitionen!“ Er bezeichnet das
Ziferblat als „eine aufregende Ergänzung zur kommerzialisierten Langweile
Starbucks“.
Oder betreibt Ivan schlicht nur cleveres Marketing mit Low-Fi-Ambiente
unter dem Label der Philantrophie? Trotz seines Konzepts der Förderung
zwischenmenschlicher Beziehungen und obwohl sie an den Enden desselben
Tisches saßen, haben sich der Deutsche Michael und die beiden Russinnen
Maria und Katharina, nicht kennengelernt.
14 Jan 2014
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
## TAGS
London
Gastronomie
Starbucks
London
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