# taz.de -- Staudämme in der Türkei: Ein Dorf geht unter | |
> Die Türkei will den Tigris stauen, um Energie zu gewinnen. Hasankeyf soll | |
> in den Fluten verschwinden. Die Bewohner fürchten um ihre Geschichte. | |
Bild: Alte Kulturlandschaft, bald unter Wasser: Hasankeyf und das Minarett der … | |
HASANKEYF taz | Nervös läuft Osman vor der Moschee auf und ab. „Die | |
Regierung ist völlig verrückt“, schimpft der Teenager. Am Nachmittag, wenn | |
die Sonne niedriger steht, will er wieder protestieren und mit | |
Gleichgesinnten die Brücke besetzen, die das kleine anatolische Dorf mit | |
der anderen Seite des Tigris-Tals verbindet – und von der sich ein | |
einzigartiger Blick auf das stolz in die Höhe ragende Minarett von | |
Hasankeyfs El-Risk-Moschee bietet. | |
Gerade versucht Osman, Broschüren über sein berühmtes Heimatdorf unter die | |
Leute zu bringen. „Hier finden Sie die Moschee“, erklärt er Besuchern von | |
auswärts, „und hier das Mausoleum des Zeynel Bey.“ Doch nicht die | |
Vergangenheit hat den Ort bekannt gemacht, sondern Hasankeyfs Zukunft. Denn | |
die ist düster. Bald schon soll Hasankeyf in den Tiefen eines gigantischen | |
Stausees versinken. | |
Hier sei er geboren, berichtet Osman, in diesen staubigen Straßen habe er | |
seine Kindheit verbracht. „Aber das war’s dann wohl.“ Was Osman heute | |
umtreibt, ist nicht der Stausee selbst. Die Pläne der türkischen Regierung | |
sind lange bekannt und weit fortgeschritten. Noch dieses Jahr wird der | |
Ilisu-Staudamm, 65 Kilometer flussabwärts von Hasankeyf, voraussichtlich | |
fertiggestellt. Wie eine riesige Badewanne wird sich dann das Tigris-Tal | |
allmählich auf einer Länge von 135 Kilometern füllen, bis der Pegel im | |
Folgejahr seinen geplanten Stand erreichen und kurz unter der Spitze des | |
El-Risk-Minaretts in Hasankeyf haltmachen wird. | |
Wütend zeigt Osman auf einige Häuser jenseits des Tigris. „Das ist Yeni | |
Hasankeyf“, sagt er – Neu-Hasankeyf. Mit den staatlichen | |
Entschädigungszahlungen werde sich seine Familie dort nie ein Haus leisten | |
können. „30.000 türkische Lire sollen wir für das alte Haus bekommen“, | |
rechnet er vor, „160.000 kostet das neue.“ Verrückt sei sie, diese | |
Regierung, wiederholt er, völlig verrückt. | |
## Der letzte wilde Fluss Anatoliens | |
Wie Osman und seine Familie sollen Tausende Einheimische des überwiegend | |
von Kurden bewohnten Tigris-Tals zwangsumgesiedelt werden. Die Regierung | |
spricht von 15.000 Menschen; Gegner des Damms rechnen damit dass insgesamt | |
bis zu 65.000 Menschen – etwa durch die Enteignung von Feldern – betroffen | |
sein dürften. | |
Nicht nur die Einheimischen, auch Naturschützer stellen sich quer. „Der | |
Tigris ist der letzte wilde Fluss Anatoliens“, sagt Dicle Tuba Kilic von | |
der Naturschutzorganisation Doan Dernei. „Wir wollen ihn mitsamt seinen | |
weltweit gefährdeten Vogel- und Pflanzenarten retten.“ Der Rotlappenkiebitz | |
sei nur eine von vielen Vogelarten, die nach der Stauung des Tigris | |
aussterben könnten. | |
Noch etwas beunruhigt die Staudammgegnerin: „Wir werden unsere Geschichte | |
verlieren. Unter Wasser können die Archäologen nicht mehr forschen.“ | |
Dutzende historisch bedeutsame Stätten lägen auf dem Gebiet und würden im | |
Stausee untergehen, erklärt Dicle Tuba Kilic. | |
Dem widersprechen selbst die am Dammbau beteiligten Unternehmen nicht. In | |
einem Bericht schreiben sie: „Das kulturelle Erbe der Gegend ist historisch | |
bedeutsam. Die Gegend ist seit mehr als 100.000 Jahren bewohnt“. Das | |
Tigris-Tal sei Zeuge zahlreicher Zivilisationen geworden. „Allerdings“, | |
schränken die Autoren ein, „scheint es nicht Kern irgendeiner Zivilisation | |
gewesen zu sein, abgesehen von einigen Jahrhunderten im Mittelalter.“ | |
Doch diese Jahrhunderte haben in Hasankeyf ihre Spuren hinterlassen, | |
weshalb das Dorf zum Symbol des Widerstands gegen Ankaras Wasserpolitik | |
geworden ist. In den engen Gassen Hasankeyfs wechseln sich christliche | |
Gotteshäuser mit Moscheen aus der osmanischen Zeit ab. Über den Hausdächern | |
erhebt sich der gelbe Sandstein des 1409 errichteten El-Risk-Minaretts, das | |
hinabblickt auf zwei aus dem Tigris ragende Pfeiler einer Backsteinbrücke. | |
Ihre gewaltigen Überreste erinnern an die einstige Bedeutung der Stadt. | |
Durch Hasankeyf verlief einmal ein Abschnitt der Seidenstraße, auf der | |
Händler und Armeen, aber auch Kulturen und Ideen vom Mittelmeerraum nach | |
Asien gelangten und zurück. | |
## Geld entschädigt nicht | |
Über den Neubau der Brücke, einige Autostunden weiter nördlich, erreicht | |
man das Dorf Halfeti. In den am Hang gelegenen Cafés sind die Lieder eines | |
Gitarrenspielers zu hören. Türkische Touristen ziehen am Paddelbootverleih | |
vorbei, und draußen auf dem See, vor den schwimmenden Fischrestaurants, | |
dreht ein Jetskifahrer seine Runden. | |
In einem Café an der Seepromenade steckt sich Mehmet Gökcek eine Zigarette | |
an und blickt auf den See hinaus. „Wir haben nicht nur unsere Häuser im | |
Wasser gelassen“, sagt der ehemalige Bürgermeister des Ortes. Da unten | |
liege die ganze Vergangenheit von Halfeti begraben. 1999 ereilte das | |
Städtchen dasselbe Schicksal, das nun Hasankeyf droht. Zwei Drittel des | |
Dorfes wurden geflutet. Wenn er gewusst hätte, was es bedeutet, sein | |
eigenes Dorf in den Tiefen eines Stausees untergehen zu sehen, sagt Gökcek | |
heute, hätte er das Projekt nicht mitgetragen. | |
Zwar sei das Verfahren damals gut gelaufen. Der Staat habe den Bewohnern, | |
die ihre Häuser verlassen mussten, reichlich Entschädigung gezahlt. Auch | |
günstige Kredite hätten die Vertriebenen erhalten, damit sie ein neues Haus | |
bauen konnten. Aber dennoch, sagt Gökcek: „Das Geld hat uns kein Glück | |
gebracht.“ | |
Wie jetzt für Hasankeyf geplant, ließ die türkische Regierung damals für | |
die zwangsumgesiedelten Menschen aus Halfeti ein neues, höher gelegenes | |
Dorf errichten. Einige steile Bergkurven von den Überresten der alten | |
Siedlung entfernt erheben sich die Neubauten von Neu-Halfeti. Ein | |
türkisches 08/15-Dorf, aus dem Boden gestampft: hohe Häuserblocks, eine | |
Tankstelle, ein Supermarkt. | |
„Die neuen Häuser sind von besserer Qualität“, gibt Gökcek zu. Aber der | |
Naturfels fehle zum Beispiel, an den die alten Häuser sozusagen angebaut | |
waren. „Auf einmal brauchten wir Klimaanlagen“, erinnert er sich. Im alten | |
Halfeti betreibt er heute noch das Café an der Seepromenade, die als | |
Aushängeschild des alten Ortes erhalten geblieben ist. „Mittlerweile bin | |
ich der Meinung“, sagt Mehmet Gökcek, „dass nirgendwo mehr Staudämme geba… | |
werden sollten.“ | |
## Die Sümpfe trocknen aus | |
Mit dieser Meinung steht der Exbürgermeister von Halfeti nicht allein da. | |
Denn ein Bauvorhaben wie der Ilisu-Damm hat weitreichende Folgen. Gut | |
tausend Kilometer flussabwärts, kurz vor der südirakischen Stadt Basra, | |
überschwemmen Euphrat und Tigris ein weites Gebiet, bilden flache Seen, | |
Feuchtgebiete und ausgedehnte Schilfflächen die sogenannten Mesopotamischen | |
Sümpfe. Irakische Naturschützer fürchten, sie könnten austrocknen, weil das | |
Wasser, das am türkischen Oberlauf des Tigris abgezapft wird, dort künftig | |
fehlen könnte. | |
„Der Ilisu-Damm bedroht den Artenreichtum“, sagt Azzam Alwash von der | |
Naturschutzorganisation Nature Iraq. Komplett austrocknen, wie viele | |
Dammgegner in der Türkei behaupten, würden die mesopotamischen Marschen | |
zwar nicht. Doch mit der Biodiversität in den Sümpfen wäre es vorbei, und | |
die Lebensgrundlage der in Schilfhäusern lebenden Marsch-Araber, die in den | |
Feuchtgebieten noch die traditionelle Überschwemmungslandwirtschaft | |
betreiben, wäre zerstört. Seit Jahrhunderten leben die Menschen hier von | |
Fischfang, Jagd und der Zucht von Wasserbüffeln. „In dem Land, in dem die | |
Landwirtschaft erfunden wurde“, sagt Alwash in Anspielung auf Mesopotamiens | |
kulturgeschichtliche Bedeutung, „wird sie sterben.“ | |
Dass der Ilisu-Damm aber noch verhindert werden kann, dass Hasankeyf noch | |
eine Chance hat, über Wasser zu bleiben, daran glauben mittlerweile auch | |
die Dammgegner im türkischen Anatolien nicht mehr. „Ich mache mir keine | |
großen Hoffnungen mehr“, sagt Dicle Kilic von Doan Dernei und tröstet sich: | |
„Immerhin haben wir eine Diskussion angestoßen.“ Vielleicht könne man ja | |
wenigstens den Cizre-Damm verhindern, der einige Kilometer flussabwärts von | |
Ilisu an der Grenze zu Syrien entstehen soll. | |
Auch Osman glaubt nicht mehr an eine Zukunft in Hasankeyf: „Wir werden wohl | |
wegziehen oder jahrelang einen Kredit für das neue Haus abbezahlen müssen.“ | |
Erst mal will er mit seiner Freundin nach England zum Studieren. Wenn er | |
wiederkommt, wird er seine Heimat wohl kaum wiedererkennen. | |
4 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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