# taz.de -- Volkskatholizismus in Italien: Oii, maronna! | |
> Die Madonna auf dem Montevergine bei Neapel ist auch die Schutzheilige | |
> der Transsexuellen und Schwulen. Sie huldigen ihr dort jährlich zu Mariä | |
> Lichtmess. | |
Bild: Vladimir Luxuria, Italiens prominenteste Transsexuelle, bei der Segnung d… | |
AVELLINO taz | Tief hängen die dunklen Wolken über dem Montevergine, dem | |
„Berg der Jungfrau“ sechzig Kilometer östlich von Neapel, immer wieder | |
fällt leichter Regen an diesem Februarsonntag. Die Pilger hält das nicht | |
ab. Schon um halb neun am Morgen stehen Hunderte dick vermummt in ihren | |
Winterjacken auf dem Vorplatz der Basilika, eine schier endlose Schlange | |
von Autos und Reisebussen kriecht Serpentine um Serpentine den Berg hinauf. | |
Wallfahrtsroutine, schließlich ist ein wichtiges Marienfest zu feiern, die | |
„Candelora“ – auf deutsch: Mariä Lichtmess. Marienverehrung, Blutwunder, | |
religiöse Umzüge sind in dieser Region Italiens – Kampanien – nach wie vor | |
populär. | |
Bis zum letzten Platz ist die Kirche des Benediktinerklosters Santa Maria | |
di Montevergine an diesem Morgen gefüllt. Der Abt erklärt der Gemeinde die | |
Legende, wie Maria das Jesuskind im Tempel vorstellte, nach altem jüdischen | |
Brauch. Die Orgel ertönt, die Gläubigen stimmen in jedes Gloria und | |
Halleluja ein. Die Stimmung ist feierlich und die Messe noch in Gang, als | |
draußen ein ganz anderes Spektakel anhebt. | |
Zehn Männer haben sich am Fuß der Freitreppe zur Seitenkapelle in einer | |
Reihe aufgebaut. Sie legen einander die Arme auf die Schultern, drei von | |
ihnen beginnen, auf ihren Schellentrommeln einen treibenden Rhythmus zu | |
schlagen, dann stimmt der Vorsänger sein Lied auf Maria an – ein in | |
jahrhundertealter Folklore wurzelndes Lied, das mit den liturgischen | |
Gesängen drinnen gar nichts zu tun hat. Die anderen fallen ein, mit rauen, | |
gutturalen Stimmen – dabei erklimmen sie die erste Stufe. So geht es | |
Strophe um Strophe Stufe für Stufe; mit leuchtenden Gesichtern besingen die | |
Männer ihre etwas andere Madonna: die „Mamma schiavona“, die Mutter des | |
Sklaven. | |
Schließlich halten die zehn Männer Einzug in die Kapelle, schließen ihr | |
erstes Lied unter dem großen Madonnenbildnis mit einem lauten „Viva | |
Maria!“, nur um sofort wieder in einen Dialektgesang mit schnellem Rhythmus | |
einzufallen – „oii, maronna“, so heißt die Jungfrau auf Kampanisch. | |
Währenddessen zelebriert der Abt die Messe im Hauptschiff der Basilika | |
weiter, die Trommelklänge überhört er. Ein Nebeneinander und nicht ein | |
Gegeneinander, auch für die Pilger: So mancher macht sich leise auf, | |
hinüber in die Kapelle, wo das große Marienbild hängt, um das | |
folkloristische Spektakel zu genießen. | |
## Kybele und Schutzheilige | |
Die Heilige Jungfrau, Muttergottes, Madonna, Maria, Maronna – sie hatte | |
hier auf dem Montevergine immer schon eine ganz besondere Kundschaft: die | |
„Femminielli“ aus Neapel, Männer, die sich als Frauen fühlen und das seit | |
Jahrhunderten offen leben. Nicht umsonst sei ihre Schutzheilige die Mamma | |
schiavona, erklärt Sabato, der Vorsänger, ein kleiner Mann mit wuchtigem | |
Bauch und zotteligem Bart. Anders als einige Mitsänger wirkt er nicht wie | |
ein Femminiello; auf Nachfrage lächelt er bloß geheimnisvoll. Stattdessen | |
Messefühlt er sich bemüßigt, den ganz eigenen Katholizismus der Femminielli | |
zu erläutern. | |
Genau hier habe sich schon vor Jahrtausenden ein Tempel der Göttin Kybele | |
befunden, einer Göttin, die als Mann geboren wurde, erklärt Sabato die | |
Legende; Kybele wurde entmannt und verwandelte sich in eine Frau. „Unsere | |
Mamma schiavona stellt die Beziehung zwischen der Madonna und der großen | |
Göttermutter Kybele wieder her“, sagt er. Der „schiavone“ sei übrigens | |
Kybeles Sohn Attis – „auch er wird in der Mythologie später entmannt! Und | |
die Priester der Kybele waren Eunuchen, die sich in Frauengewändern | |
kleideten.“ Sabato setzt ein schelmisches Grinsen auf. „Letzten Endes sind | |
doch alle Priester seit Jahrtausenden so – alle sind sie ein bisschen | |
Femminielli!“ | |
Ein Bein in der griechisch-römischen Mythologie, ein Bein im | |
Volkskatholizismus: So feiern die neapolitanischen Femminielli seit | |
Generationen immer am 2. Februar gegen eine Welt der eindeutigen | |
Zuschreibungen an. Ein älteres Ehepaar bittet eine Transe, die sich in ein | |
prächtiges Flamencokleid geworfen hat, um ein gemeinsames Foto. Auch die | |
anderen Pilger stört die Anwesenheit der Transen oder jener Schwulen, die | |
sich sehr dezent mit Schals in etwas gewagteren Bunttönen outen, nicht im | |
Geringsten, sie gehören hier einfach dazu. | |
Die Messe ist aus. Um Vladimir Luxuria herrscht großes Gedränge. Auf jedem | |
Meter raus aus der Kirche muss Italiens wohl berühmteste Transsexuelle | |
anhalten und für ein Foto posieren. Für die Messe hat sie sich nicht | |
aufgebrezelt, sie trägt einen langen roten Mantel. Von 2006 bis 2008 saß | |
Luxuria für die Neo-Kommunisten im Parlament, gewann dann 2008 sogar das | |
Dschungelcamp. | |
## Mit einem Hauch Schminke | |
Die Süditalienerin aus Foggia genießt den entspannten Umgang der | |
Einheimischen mit den Transsexuellen. „In Neapel gelten die Femminielli als | |
Menschen, die Glück bringen“, erklärt Luxuria, „und hier feiern wir ganz | |
normal mit.“ Das sei ihr wichtig. „Wir sind nicht hier, um zu provozieren. | |
Wir wollen uns nicht in den Vordergrund drängen.“ Und so steht Luxuria, | |
groß und schlank, bloß mit einem Hauch Schminke im ebenmäßigen Gesicht, | |
mitten unter den Gläubigen. Als der Abt die Kerzen segnet, entzündet | |
Luxuria wie alle anderen ihre Kerze, neben sich zwei Trans-Freundinnen. | |
Nicht normal finden dagegen die Benediktinermönche das in ihren Augen | |
unsittliche Treiben. Über Jahre führten sie einen Kleinkrieg gegen die | |
Femminielli. Im Jahr 2002 ließ der damalige Abt verkünden, ihre Präsenz sei | |
unerwünscht, sie veranstalteten ja bloß „Krach, den die Madonna nicht | |
gutheißt“ – und gehörten aus dem Tempel gejagt, ganz genauso, wie es Jesus | |
mit den Händlern machte. | |
In den Jahren darauf greifen die Mönche zur Guerillataktik. Mal finden die | |
Lobsänger der Mamma schiavona die Tür an der Freitreppe versperrt, mal | |
läuten die Glocken ausgerechnet dann, während sie unter Gesang und | |
Trommelspiel die Stufen erklimmen, mal wünscht sich der Abt zum 2. Februar | |
„fünf Meter Schnee“, um das sittenlose Volk fernzuhalten. | |
Ihre Abwehrstrategie ist auf ganzer Linie gescheitert. Ottavia zum Beispiel | |
kommt jedes Jahr. Niemand würde die dezent gekleidete Dame als | |
Transsexuelle erkennen, wenn sie es nicht selbst erzählte. Für sie ist die | |
Madonna von Montevergine ein Symbol der Offenheit, schließlich rankt sich | |
eine ganz besondere Legende um sie: Hier auf diesem Berg sollen im | |
Mittelalter zwei schwule Jünglinge im Winter an einen Baum gefesselt worden | |
sein, um den Kältetod zu sterben. | |
Doch dann erschien Maria, sandte einen Sonnenstrahl, der nicht nur die | |
beiden wärmte, sondern auch ihre Ketten zum Schmelzen brachte. Die | |
Botschaft dieser Legende liegt für Ottavia auf der Hand. „Das hier ist ein | |
Kult der Aufnahme, ein Kult der Differenzen, hier kommen wirklich alle her, | |
ohne Ausgrenzungen, um zu beten, um die Marienmesse zu hören, um der | |
Muttergottes zu danken.“ | |
## Sturm der Entrüstung | |
Und um zu feiern. Auf dem großen Vorplatz stehen überall Musiker mit | |
Schellentrommeln. Zu ihren Rhythmen tanzen Hunderte die Tarantella, quer | |
durch alle Altersgruppen, begleiten die Musik mit ihren mit bunten Bändern | |
geschmückten Kastagnetten. Als der Abt sie im Jahr 2002 vertreiben wollte, | |
habe er einen wahren Sturm ausgelöst, erinnert sich Ottavia. Vorher sei das | |
vielleicht einfach Folklore mit jahrhundertealten Wurzeln gewesen, aber „so | |
wurde das Fest für uns zur Candelora GLBT“ – zur Candelora der Schwulen, | |
der Lesbierinnen, der Bi- und der Transsexuellen. | |
Doch auch ihr ist wichtig: „Wir müssen hier nichts zur Schau stellen.“ Die | |
anderen Gläubigen? „Die erwarten geradezu, dass auch wir da sind. Die | |
Menschen wollen die Tarantellamusik, und sie wollen, dass auch die Schwulen | |
und die Transsexuellen hierhin pilgern.“ Ottavia war in ihrem früheren | |
Leben, wie alle Jungen, mal Messdiener. | |
Hinter ihr setzt gerade ein Mann seinen Hut ab, rundum dekoriert mit | |
Plastikfrüchten in allen Farben. Dann entledigt er sich einer wallenden | |
Perücke; den BH, den er über der Fleecejacke trägt, dagegen behält er an. | |
Zum Vorschein kommt ein weißhaariger Herr über 70, der jetzt seine | |
Halbglatze präsentiert. Ein paar Menschen drehen sich um, niemand nimmt | |
Anstoß daran, genauso wie niemand in den Tarantella-Pulks fragt, ob sein | |
Gegenüber „gay“ oder „trans“ sei, wie es auf Italienisch kurz heißt. | |
## Brief an den Papst | |
Still und leise kapitulieren dieses Jahr auch die Mönche. Völlig ungestört | |
stößt Vladimir Luxuria mit einer Schar Gleichgesinnter im Klostershop mit | |
Likör auf die Mamma schiavona an, der stumme Pater wirft allerdings einen | |
säuerlichen Blick. „Die Madonna steht für die Liebe“, erklärt Luxuria, �… | |
sie schaut ganz gewiss nicht auf die sexuelle Orientierung derer, die zu | |
ihr beten.“ Sie strahlt. „Das war nicht meine erste Candelora hier – gewi… | |
aber die schönste!“ | |
Alle Türen waren diesmal geöffnet, vielleicht wird es nächstes Jahr wieder | |
so sein? Könnte sich auch die Kirche bessern? „Der neue Papst verwendet | |
eine völlig andere Sprache als alle seine Vorgänger“, sagt Luxuria, „wenn | |
er sagt, wer bin ich denn, dass ich über einen Schwulen zu Gericht sitze?“ | |
In der Hand hält sie einen Umschlag, einen Brief an Papst Franziskus, „den | |
ich heute von hier abschicke, mit der Bitte, sich mit unserer Community zu | |
treffen“. | |
Luxurias Tagesbilanz ist rundum positiv. „Ich habe die Kommunion empfangen, | |
direkt aus der Hand des Abtes.“ Nein, das sei kein gewonnener Krieg, „das | |
ist bloß die Bestätigung, dass alle das Recht auf Glauben haben.“ | |
9 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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Enrico Letta | |
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