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# taz.de -- Ärzte außer Kontrolle: Ruhe durch Ritalin
> In Hamburg und Bremen bekommen immer mehr Kinder mit hohem Bewegungsdrang
> und Konzentrationsstörungen umstrittene Medikamente.
Bild: Das in Hamburg besonders gern verschriebene Ritalin ist unter Medizinern …
HAMBURG taz | Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein, detonierte heftig
aber kurz und der Pulverdampf verzog sich schnell. Vor genau einem halben
Jahr verkündete der Verband der Ersatzkassen, VDEK, dass nirgendwo mehr
Ritalin an Kinder und Jugendliche verordnet werde als in Hamburg. Mit dem
hoch umstrittenen Medikament soll die Aufmerksamkeits- und
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – auch Zappelphilipp-Syndrom genannt – vor
allem von Kindern und Jugendlichen eingegrenzt werden. Die Devise lautet:
Ruhe durch Ritalin.
Rund eine Woche wurde über den Ritalin-Boom im Norden hitzig diskutiert,
Abhilfe gefordert. Passiert aber ist bislang nichts.
„Die Verordnungsrate des Wirkstoffs liegt fast 50 Prozent über dem
Bundesdurchschnitt“, warnte der VDEK, der sechs Ersatzkassen, etwa die
Barmer, die Kaufmännische oder auch die Techniker Krankenkasse vertritt.
Mit 18,6 Tagesdosen pro tausend Kindern ist Hamburg unangefochten
Tabellenführer, doch Bremen folgt mit 15,1 Dosen immerhin auf Platz drei.
„Rund 5.000 gesetzlich versicherte Hamburger Kinder und Jugendliche
schlucken täglich Methylphendiat“ – so der Name des Wirkstoffs –, teilte
der VDEK mit. Dabei ist der Hamburger Ritalin-Boom Teil einer bundesweiten
Verschreibungsflut. Wurden 1993 noch 34 Kilo Ritalin pro Jahr in
Deutschland verschrieben, so waren es 2010 bereits 1,8 Tonnen – Tendenz
weiterhin steigend.
Die Akteure aber ducken sich weg: Der Hamburger Gesundheitsbehörde war die
Ritalin-Studie keinen Kommentar wert. Auch die Hamburger Ärztekammer mag
die Ritalin-Flut nicht bewerten und verweist stattdessen auf den
Vorsitzenden des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, den
Eimsbütteler Kinderarzt Stefan Renz, als Ansprechpartner. Doch auch der
lässt nur ausrichten, er habe zu dem Thema „nichts zu sagen“.
Einer, der sich eine Meinung leistet, ist der ärztliche Leiter des
Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Nord, Bernhard von Treeck.
Die Zahlen aus Hamburg seien ein Alarmsignal, warnt der Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie.
Denn wer glaubt, die Vergabe des Medikaments sei ein Großstadtphänomen und
die Nord-Stadtstaaten seien deshalb naturgemäß vorn, der irrt. So findet
sich zwischen Hamburg und Bremen Rheinland-Pfalz auf Platz zwei des
Bundesländer-Rankings, während in Berlin nur halb so viel Ritalin
verschrieben wird wie in Hamburg.
Von Treeck, der über die Hyperaktivität von Kindern promoviert hat, warnt
vor einer allzu sorglosen Verschreibungspraxis. Eine aktuelle Studie aus
Bochum zeigt: Es gibt kaum klare Diagnosekriterien für ADHS. Besonders bei
männlichen Heranwachsenden wird die Krankheit zu häufig diagnostiziert.
„Die Diagnosequalität ist extrem schlecht“, glaubt auch von Treeck. „Wir
haben deshalb keine belastbaren Daten, ob zu viel Ritalin verschrieben wird
oder nicht.“ Wenn ein Kind gar kein ADHS habe, sondern nur
verhaltensauffällig sei, könne das Medikament großen Schaden anrichten.
Zudem sollte eine Ritalin-Vergabe immer nur innerhalb eines
gesamttherapeutischen Konzepts erfolgen.
„Hamburg ist eine reiche Stadt, deshalb müsste die Zahl an psychischen
Erkrankungen eigentlich niedriger sein“, sagt von Treeck. Deshalb dürfe man
diese Verordnungszahlen nicht einfach akzeptieren. „Man muss ihnen auf den
Grund gehen“, findet der Mediziner.
Das könnten die Kassenärztlichen Vereinigungen tun. Nur sie kommen an die
Daten von Ärzten, die solche Medikamente auffällig oft verschreiben. „Doch
die Vereinigungen haben kein Interesse, diese Ärzte anzusprechen und sich
so unbeliebt zu machen“, sagt von Treek.
Das sieht man bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg naturgemäß
anders. „Wir können keinen Arzt nötigen, etwas zu verschreiben oder nicht
zu verschreiben“, erklärt deren Sprecherin Franziska Schott. Die
Kassenärztlichen Vereinigungen seien schließlich nicht dazu da, die
Verordnungspraxis einzelner Ärzte zu kontrollieren.
Damit bleibt die entscheidende Frage offen: Wer dann?
9 Feb 2014
## AUTOREN
Marco Carini
## TAGS
Medikamente
Schauspieler
Barmer GEK
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