# taz.de -- Soloalbum-Debüt von Chris Imler: Gerade aufgestanden | |
> Toll: Der Berliner Lebenskünstler Chris Imler veröffentlicht mit Mitte 50 | |
> endlich sein kongeniales Elektronikalbum „Nervös“. | |
Bild: Auf eine Zigarette mit Chris Imler. | |
Doch, doch, das trifft es. „Nervös“ ist der richtige Titel für ein Album | |
von Chris Imler. „ADHS“ wäre auch ein lustiger Name gewesen, oder | |
„Ritalin“. Hat man den Mann überhaupt je bewegungsarm gesehen? | |
Eher nicht: Imler, Schlagzeuger, Sänger, Songwriter, Elektrofrickler, | |
zugezogene Berliner mit multiplen Banderfahrungen, Vater einer erwachsenen | |
Tochter, ist nervös, ist zappelig, lässt das Adjektiv aber vor allem durch | |
die positiven Aspekte glänzen: Energetisch, interessiert, von Natur aus | |
vigilant. Mit dem langweilt man sich bestimmt nie. | |
Mit seiner Musik auch nicht: „Weißt du was ich war/First Live Avatar“ | |
singt, oder besser spricht er in der ersten Zeile des Auftaktsongs seines | |
ersten Soloalbums, während gute alte Elektrobeats losklirren, Elektrobeats | |
aus der Zeit, als sie noch gleichzeitig kalt und warm klangen. Imler weiß, | |
wie man derart abgrundtiefe Beats fabriziert | |
Er kennt sie noch von früher. Geboren wurde er in den Sechzigern, aus dem | |
Alter für genauere Angaben ist er damit raus. „Ich möchte gern offen, aber | |
auch unehrlich sein dürfen“, sagt er und holt sich für das Gespräch in der | |
Kantine in der Nähe seines Kreuzberger Übungsraums einen Kaffee. | |
## Krumme Trommeln | |
Es ist zu vermuten, jedenfalls wenn man neidisch und vorurteilsbelastet | |
wäre, dass Imler gerade aufgestanden ist. Und das ist seine Genese, | |
jedenfalls ein Teil davon: Imler lernte als Heranwachsender Schlagzeug auf | |
krummen, kaputten Trommeln mit einem Bassdrumpedal ohne Feder, erzählt er, | |
in feuchten Kellern unter Beatschuppen. Er stand auf Blues, hatte | |
„sozialromantische Kitschvorstellungen“ von der Freiheit des Pennerdaseins | |
und wurde konsequenterweise vom Gymnasium geschmissen, wie es Freigeistern | |
im bayerischen Augsburg zuweilen passiert. | |
Nach Steinbildhauerlehre und Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg | |
ging er 1985 nach Berlin, studierte hernach aber doch nicht, sondern fuhr | |
Taxi. „Abitur der Straße“, sagt er über die Taxiprüfung, „gefahren bin… | |
wenn ich Geld brauchte“. Er erzählt von linken Taxikollektiven, bei denen | |
man die Schichten selbst einteilen konnte. Und somit bereit war für ein | |
Musikerleben, das – wie noch immer – meistens nachts stattfand. | |
Imler spielte und spielte, mit „Bands, die etwas Neues probieren wollten“, | |
sagt er, keinen Studioschlagzeuger, der alles kann, sondern einen mit | |
eigenem Stil – musikalisch wie äußerlich – favorisierten. Er trommelte in | |
den Neunzigern bei den Golden Showers, deren Bühnenshow herrlich exaltiert, | |
trashig und feucht war, die einst als „semi-legendär“ angekündigt wurden | |
und von denen es kaum Bild- oder Tondokumente gibt. | |
## Verschwende Deine Jugend | |
„Das verstehe ich unter Jugendverschwenden“, sagt Imler dazu, „mit dem | |
ganzen Fotografieren und Archivieren heutzutage sichert man sich doch nur | |
ab.“ Dazu spielte er mit Peaches, den Puppetmastaz, mit Patric Catani als | |
Elektroclash-Duo „Driver & Driver“, mit Jens Friebe in dessen Band, bei The | |
Spankings mit Taylor Savvy, und neulich gab es in Brüssel ein Set, das | |
„Chris Imler vs. Felix Kubin“ hieß und bei dem er den noch nervöseren | |
hanseatischen Elektronik- und Industrialkünstler Kubin battlete. | |
Imler fiel früher vor allem durch das völlige Fehlen jeglicher Attitüde | |
auf. War immer freundlich zu jedem, schien Drogen beneidenswert gut zu | |
vertragen, rollte das r, als ob er Augsburg nie den Rücken gekehrt hatte, | |
machte schon immer sein Menjoubärtchen zum Signature-Look und sah in | |
Anzügen und Pullundern nach Gentleman aus. | |
Es fehlte eben, zum Glück, die typische Upfront-Attitude: Er habe lange | |
einfach nicht genug Ehrgeiz gehabt, um ein Soloalbum zu machen, erzählt | |
Imler. „Nervös“ besteht nun aus programmierter Musik, aus den Retrosounds | |
der Instrumente und Keyboards, wie sie etwa DAF benutzten, dazu Imlers | |
charmanter Sprechgesang, seine Alan Vega-artige Herangehensweise an Rock | |
’n’ Roll, und seine irren Texte, die an die humorvolle Seite der NDW | |
erinnern, aber auch genau dieses Genre veräppeln. | |
„Ich bin nur ein einfacher Arbeiterjunge, fass mich an und fass mit an“ | |
singt er in „Arbeiterjunge“. „Bei mir zuhaus / fließt nur kalter Strom / | |
Ausziehen Ausziehen / Ich hör sie saugen über mir / Dieselbe Stelle am | |
Klavier“ fasst langjährige, typische Kreuzberger Wohnerlebnisse zusammen. | |
## Nicht folkig, sondern voll | |
Der Klang seiner Songs ist einfach, dunkel und präzise, eine erwachsene | |
Entspanntheit mischt sich in die Nonsens-Texte und unter den spielerischen | |
Umgang mit Synthesizern. „Used to too“ erinnert an den tanzbaren | |
Industrialsound eines Fad Gadget, andere Songs klingen, und der Titelsong | |
„Nervös“ mischt die Sophistication der Gorillaz mit einem Hauch | |
Orientalistik, gerade so, dass es nicht folkig, sondern voll klingt. | |
„Früher sollte Musik für mich mindestens etwas komplett kaputtschlagen. | |
Dann hab ich gemerkt, dass man allein damit auch nicht weit kommt.“ Darum | |
versprühen die Songs eine ironische Emotionalität, kein Krach. | |
Imler, der seiner Indie-Karriere mit diesem Album noch eine Facette | |
hinzufügt, schmeißt damit alle Klischees über den Haufen: In der Großstadt | |
und im Nachtleben versinken und sich trotz magerer Gagen und Hiwi-Jobs gut | |
gelaunt jahrzehntelang vom Prekariat fernhalten, ein Kind bekommen und | |
Vaterschaft genießen. | |
Okay, die Tochter, gibt Imler zu, sei bei der Mutter aufgewachsen, | |
Fulltimevater war er erst später und nur zeitweise, ein Leben also mit | |
allen giftigen und ungiftigen Facetten mitnehmen und dennoch pünktlich und | |
ansehnlich beim Interview sitzen. „Ich kann das auch nicht mehr die ganze | |
Zeit“, sagt er und kramt als Beweis sein Magenmittel gegen Gastritis aus | |
der Tasche. Ohne Einfluss auf seine Energie. | |
Das sei genetisch, behauptet Imler und erzählt von seiner Großmutter, die | |
„noch auf dem Sterbebett das restless legs-Symptom hatte“. Dennoch: Neulich | |
„habe ich mich erschreckt, als ich mich im Video gesehen habe. Es stimmt, | |
die Nase wächst im Alter.“ Heute gehe er nach Hause, wenn die Party öde | |
ist. „Früher hab ich noch ’ne Line Speed genommen und bin dann ins Bett | |
gegangen“, sagt er dann. „So etwas mache ich nicht mehr“. | |
31 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
## TAGS | |
Berlin | |
Achtziger Jahre | |
Lady Gaga | |
Mars | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Musikalische Materialsammlung: Neue Deutsche Welle neu aufgelegt | |
Auf einer Compilation wurden deutsche Songs zwischen Punk und Schlager | |
zusammengestellt. Sie zeichnet eine völlig verfehlte Konzeption aus. | |
Lady Gagas neues Album: Einen Moment Jeff Koons sein | |
Musikalisch ist Lady Gagas drittes Album „Artpop“ purer Dancefloor. Sie | |
gibt sich nun als Allround-Künstlerin – und meint es ernst. | |
75 Jahre Orson Welles' „Krieg der Welten“: Miese Marsianer als kleineres Ü… | |
Vor Halloween 1938 hielten viele eine Marsianer-Attacke für Realität. Ein | |
oft adaptierter Geniestreich von Orson Welles – und heute kaum mehr | |
möglich. |