# taz.de -- Ein Tod im Zeichen politischer Umbrüche: Ein Trauma entschlüsseln | |
> 2008 wird die Lyrikerin Anna Altschuk tot aufgefunden. In dem „Buch über | |
> Anna“ zeichnet der Philosoph Michail Ryklin einfühlsam das Porträt seiner | |
> Frau. | |
Bild: Michail Ryklin auf der Buchmesse 2007 in Leipzig. | |
BERLIN taz | Am 21. März 2008 verlässt die russische Künstlerin und | |
Dichterin Anna Altschuk ihre Berliner Wohnung. Drei Wochen später wird ihre | |
Leiche aus der Spree geborgen. Gerichtsmedizinische Untersuchungen können | |
die Todesumstände nicht eindeutig klären. Das führt, vor allem auch in den | |
deutschen Medien, zu Spekulationen, die 53-Jährige könnte aus politischen | |
Gründen ermordet worden sein. Doch diese Version hat Annas Ehemann, der | |
russische Philosoph Michail Ryklin, zu den Akten gelegt. Er ist überzeugt: | |
„Meine Frau hat sich das Leben genommen.“ | |
Nach dem Tod Annas, mit der er 33 Jahre verheiratet war, findet Ryklin in | |
Moskau 27 Hefte – Tagebuchaufzeichnungen seiner Frau sowie Skizzen ihrer | |
Träume. Nicht zuletzt diese Hinterlassenschaft dürfte der Impuls für das | |
„Buch über Anna“ gewesen sein. Der Schaffensprozess erstreckt sich über | |
mehrere Jahre, wobei Ryklin allein für die letzten zehn Seiten mehrere | |
Monate braucht. | |
Die Lektüre, die den Leser ob der bisweilen intimen Einblicke nolens volens | |
zu einem Voyeur werden lässt, macht schnell deutlich, warum. Das „Buch über | |
Anna“ ist keine Biografie im herkömmlichen Sinne. Denn es ist nicht nur der | |
Versuch, sich dem Leben und Sterben einer Frau anzunähern, die von inneren | |
Widersprüchen zerrissen war und diese Fragmente zu einem Gesamtbild zu | |
verdichten. Für Ryklin ist es auch ein Stück Trauerarbeit, die, wie er | |
schreibt, die Last zumindest leichter macht. Und an deren vorläufigem | |
Abschluss die Erkenntnis steht, trotz eines so langen intensiven | |
Zusammenlebens so wenig voneinander gewusst zu haben. | |
Ryklin erzählt von seiner ersten Begegnung mit Anna 1975 und ihrer Hochzeit | |
zwei Jahre später. Die Loslösung von der Mutter, die versuchte, die Tochter | |
zur Unterwürfigkeit zu erziehen und auf ihre eigenen Bedürfnisse | |
„abzurichten“, gestaltet sich schwierig. Hingezogen fühlte sie sich zu | |
ihrer Großmutter väterlicherseits, die fast 30 Jahre in der Psychiatrie | |
verbrachte, in der Familie totgeschwiegen wurde und die Anna nie | |
kennenlernte. | |
In den 90er Jahren erlebt das Ehepaar schmerzlich, wie die kulturellen | |
Freiräume aus den Zeiten der Perestroika wieder enger zu werden beginnen. | |
Ab 2003 und damit drei Jahre nach dem Machtantritt von Wladimir Putin steht | |
Anna Altschuk in Zusammenhang mit der Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ im | |
Moskauer Sacharow-Zentrum wegen Aufwiegelung zum nationalen und religiösen | |
Hass vor Gericht. Die Ausstellung war kurz vor ihrer Eröffnung von | |
orthodoxen Fanatikern zerstört worden, weil sie angeblich die Gefühle | |
Gläubiger verletzt habe. | |
## Berliner Euphorie | |
In ihren „Notizen von der Anklagebank“, die dem Buch beigefügt sind, | |
beschreibt Anna Altschuk eindrücklich den abgrundtiefen Hass der selbst | |
ernannten Gläubigen. Sie verunglimpfen die Angeklagten als „Juden“ und | |
wünschen ihnen nichts Geringeres als den Tod. Fast identische Szenen | |
wiederholen sich 2012, als drei Mitglieder der feministischen | |
Frauen-Punkband Pussy Riot wegen einer Anti-Putin-Aktion in der Moskauer | |
Christi-Erlöser-Kathedrale zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt | |
werden. | |
Obwohl Anna Altschuk freigesprochen wird, ist sie nachhaltig traumatisiert. | |
Doch noch hadert sie damit, anders als Michail Ryklin, Russland dauerhaft | |
zu verlassen. Das ändert sich nach dem Mord an der kremlkritischen | |
Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006. „Russland wird | |
zwangsläufig einen Faschismus durchmachen“, schreibt Anna Altschuk am 9. | |
Oktober in ihr Tagebuch. „Unter den heutigen Umständen dort zu leben ist | |
absurd.“ | |
Im Herbst 2006 gehen beide für einige Monate nach Berlin, ein Jahr später | |
lassen sie sich dort endgültig nieder. Doch Annas „Berliner Euphorie“ ist | |
trügerisch. Denn zu diesem Zeitpunkt, so konstatiert Ryklin, muss sie schon | |
in einer Parallelwelt gelebt haben. Diese kommt zwar bisweilen zum | |
Vorschein, so als Anna ihrem Ehemann unterstellt, ein Verhältnis mit ihrer | |
Freundin zu haben. Dennoch bleibt ihm dieses Universum in weiten Teilen | |
verschlossen. | |
## Eine Horrorvorstellung | |
Dabei treiben Anna nicht nur der Verlust ihrer Freunde und der vertrauten, | |
auch sprachlichen Umgebung um. Vielmehr greift eine Horrorvorstellung | |
Platz, die sie als Feministin bereits seit Langem verfolgt: An der Seite | |
ihres Mannes auf eine „Nur-Ehefrau“ reduziert zu werden, die „überflüss… | |
werden und fallen gelassen“ werden könnte. | |
„Leichten Herzens werde ich schwimmen mit dem Strom, / sobald ich höre: | |
’Schwimm‘ “, heißt es in einem Tagebucheintrag vom 29. Oktober 2006 – … | |
Zeile aus einem Gedicht von Annas japanischer Lieblingsdichterin und für | |
Ryklin ein Satz aus ebenjener anderen Welt. Ob das sich abzeichnende Drama | |
hätte abgewendet werden können? Das, notiert der Autor, wisse er auch heute | |
nicht. | |
Michail Ryklin ist wohl nicht der Einzige, der sich diese Frage stellt. | |
„Buch über Anna“ – eine menschliche Tragödie im Zeichen tiefer politisc… | |
Umbrüche ist berührend und verstörend zugleich. | |
7 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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Anna Politkowskaja | |
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