# taz.de -- Aussehen wie ein Vorstadtbewohner: Normcore - der letzte Unterschied | |
> Normcore ist nicht das Ende der Differenz. Normal ist das neue Cool. Wenn | |
> alle exzentrisch sind, ist Normalität das eigentliche Abenteuer. Echt | |
> jetzt? | |
Bild: Hipster inkognito: Paar im Bild rechts mit grauer Jacke (er) und roter Wo… | |
BERLIN taz | Fuck the norm!“, schrie es mir vor ein paar Tagen von einem | |
Aufkleber entgegen, als ich morgens zu Fuß Berlin-Mitte durchquerte. Dass | |
jemand im Geiste jugendlichen Rebellionsbegehrens die Norm zum Teufel | |
wünscht, ist nichts Neues. Es erscheint aber kurios, wenn man sich ansieht, | |
was seit ein paar Wochen durch die digitalen Kommunikationskanäle geistert. | |
Normal, so erzählt man sich dort, ist das neue Cool. | |
Die avanciertesten Elemente der globalen kreativen Klasse sind so nervös, | |
als stünde der erste Sexualkontakt bevor: Ein Trend geht um. Einer, der | |
sich so geschickt tarnt, dass man ihn kaum bemerkt hätte, wäre nicht eine | |
New Yorker Trendforschungsagentur so aufmerksam gewesen, genau | |
hinzuschauen. | |
Sie hat einen neuen Look entdeckt, der darin besteht, keiner zu sein. | |
Normcore haben sie den Stil in New York getauft. Eine lustige | |
Wortschöpfung, die die Widersprüchlichkeit des Phänomens einfängt: Normal | |
auszusehen, in einem ultimativen, extremen, radikalen Sinn. Das ist nicht | |
so leicht, wie es klingt. | |
Normcore, so die geläufige Definition, zeichnet sich durch stilisierte | |
Unscheinbarkeit aus, die Abwesenheit von Exzentrik und Originalität. Die | |
New Yorker berufen sich dabei auf den Science-Fiction-Autor William Gibson, | |
der vor einigen Jahren eine seiner Protagonistinnen mit einer Allergie | |
gegen Markenlogos ausgestattet hat. | |
## Exponentiell erweiterter Mode-Personen-Kreis | |
Die junge Frau reagiert hypersensibel auf das kapitalistische | |
Zeichensystem, das schnöde Waren emotional überhöht und mythisch auflädt. | |
Sie trägt deshalb ultranormale Standardkleidungsstücke: schwarze Jeans, | |
schwarze T-Shirts, graue Pullover. | |
Die New Yorker Trendforscher meinen, die Träger des neuen Stils, die man in | |
westlichen Metropolen beoachten kann, hätten sich vom Coolnessgebot | |
verabschiedet, das auf der Darstellung von Differenz beruht. Aber ist das | |
wirklich so? | |
Mode muss sich ständig verändern, damit sie ihr Neuigkeitsversprechen | |
einlösen kann, bringt dabei aber, wenn sie sich durchsetzt, Uniformität | |
hervor: Wer gemäß dem letzten Schrei gekleidet ist, sieht, wenn er nicht | |
gerade auf dem Dorf wohnt, sein Spiegelbild hundertmal am Tag, auf der | |
Straße, in der U-Bahn, im Büro und in der Kneipe. | |
Wer Normcore trägt, hat diesen Personenkreis exponentiell erweitert, ohne | |
dass derselbe auch nur ahnt, dass er Teil einer Modebewegung geworden ist. | |
Normcore ist insofern Antimode – und als solche paradoxerweise zugleich die | |
konsequenteste Verfolgung des modischen Gedankens. | |
## „Heute Norm, morgen Tod“ | |
Normcore ist ein Stichwort geworden, das zu formulieren scheint, was in der | |
Luft liegt. In den westlichen Gesellschaften hat sich in den letzten vier | |
Jahrzehnten die Idee von Normalität stark gewandelt, wenn sie nicht | |
gänzlich von den Verhältnissen überholt worden ist. | |
Die Normüberschreitungen der Subkulturen, die auch immer wieder modische | |
Neuerungen provoziert haben, funktionieren nur noch dort, wo der Kampf um | |
die Liberalisierung der Lebensentwürfe, der Sexualität, der Arbeit noch | |
nicht abgeschlossen ist. | |
Hippies waren selbstverständlich gegen die Norm. Auszuflippen hielten sie | |
angesichts gesellschaftlicher Normzwänge für angebracht. Sie ließen lange | |
Haare „aus allen Löchern wachsen“, wie es bei der Band Mothers of Invention | |
hieß. Sie sprengten mit LSD die Grenzen der sinnlichen Normalität und | |
gammelten lieber herum, statt ordentlich zu arbeiten. Letzteres taten auch | |
die Punks gern. „Heute Norm, morgen Tod“, sang die Solinger Band S.Y.P.H. | |
Anfang der Achtziger. Mit asymmetrischen Frisuren, Löchern in den Hosen und | |
Piercings im Gesicht beglaubigten sie ihre antikonformistische Existenz. | |
Die Raver schließlich setzten sich selbst über die kosmischen und | |
biologischen Rhythmen von Tag und Nacht hinweg. Spätestens hier beginnt | |
auch die Geschichte von Normcore, bestand der typische Raverstil doch aus | |
Hose, T-Shirt, Turnschuhen, also der Alltagsuniform der Subkulturen, deren | |
Protagonistinnen modisch lieber Kinder bleiben, statt ihren Status als | |
Erwachsene mit entsprechender Kleidung zu repräsentieren. | |
## Monogamie in Serie | |
Seit den 1990ern sind im Westen die letzten Bastionen des Normalen, dieses | |
Schlüsselbegriffs des brutalen, gern auch mal menschenverachtenden 20. | |
Jahrhunderts, geschliffen. Niemand muss mehr heiraten, um Kinder kriegen zu | |
dürfen. Man muss dafür nicht einmal mehr heterosexuell sein. Monogam ist | |
man oft schon noch, aber dann in Serie, eine Zweierbeziehung folgt der | |
anderen. Feste Arbeitsverhältnisse gibt es immer weniger. In jeder | |
Bankfiliale jobbt eine Tätowierte. | |
Normen scheinen nicht mehr das Problem zu sein. Gesellschaftliche | |
Produktivität ist nicht mehr an Standards und Formate, sondern an | |
Individualität, Kommunikationsfähigkeit und Innovation gekoppelt. Selbst | |
der Chefredakteur der Bild-Zeitung trägt zum Zeichen seiner entfesselten | |
Kreativität nicht mehr Anzug. Er sieht mit Bart, Kapuzenpulli und | |
Armbändchen aus wie ein Hipster, der den Bausparvertrag auflöst, den die | |
Eltern für ihn abgeschlossen haben, um das Geld in ein irres Start-up zu | |
investieren. | |
Normcore ist nicht das Ende von Differenz, wie die New Yorker Trendforscher | |
meinen, sondern markiert den letzten Unterschied. Normalität wird zum | |
Abenteuer. Wer sich heute ein Eheversprechen gibt und es ernst meint, kann | |
durchaus auf die Idee kommen, eine geradezu heroische Entscheidung zu | |
treffen. | |
Wenn das ideale zeitgenössische Subjekt transgressiv ist, also die | |
Fähigkeit zur Überschreitung der Normen haben muss, wird es Zeit, sich den | |
Vollbart abzuschneiden. Wer aussieht wie ein von Mode und Extravaganz | |
gänzlich unangekränkelter Vorstadtbewohner, ist vielleicht der hippste von | |
allen, arbeitet womöglich gar an einem subversiven Projekt. | |
## Tennissocken gehören zum Normcore-Kanon | |
Auch diese Idee hat ihre historischen Vorläufer. Werfen wir einen Blick auf | |
das Cover des Albums „20 Jazz Funk Greats“ der britischen Band Throbbing | |
Gristle von 1979. Drei Männer und eine Frau stehen auf einer Blumenwiese am | |
Rande eines Kliffs. Man ist konform im Stil der Zeit gekleidet. Beige | |
Hosen, blauer Nicki, weißes Jackett, blaues Hemd. | |
Wüsste man nicht, dass Throbbing Gristle richtig schlimme Finger sind, die | |
ihr Publikum mit Krach betäuben und mit Blitzlichtern blenden, die benutzte | |
Tampons zu Kunst erklären und seitens der britischen Boulevardpresse daher | |
als „Zerstörer der Zivilisation“ gelten, dann würde man denken können, | |
diese Band spielte den Dudelfunk von SWR3. | |
Wenn jemand Normcore als Bekleidungsstil erfunden hat, dann waren es | |
Throbbing Gristle. Die Idee dazu hatte ihnen wiederum William Burroughs | |
geschenkt, der sich in den späten 1960ern die „unsichtbare Generation“ | |
ausgedacht hatte. Diese Agenten des Kampfs gegen Norm und Kontrolle sahen | |
aus „wie ein Angestellter einer Werbeagentur, ein Collegestudent, ein | |
amerikanischer Tourist“. Die Idee, dass Tennissocken ein Bestandteil des | |
Normcore-Kanons sind, wie manche behaupten, verweist auf diese historische | |
Dimension. Tennissocken sind das Normal von gestern. | |
Blasen der Normalität gibt es noch überall. In streng protestantischen | |
Familien in Württemberg, in den preußischen Amtsstuben der deutschen | |
Hauptstadt, weiter verbreitet auch in konservativen Gesellschaften, wie zum | |
Beispiel in Putins Russland. | |
Wo aber das strenge Regime der Normalität gestürzt wurde, herrschen neue, | |
weniger sichtbare Konformitätszwänge. Allzeit flexibel, | |
kommunikationsbereit sein zu müssen, ist für manche Leute schlimmer als der | |
alte Schlipszwang im Büro. Aber das ist eine andere Geschichte. | |
11 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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