# taz.de -- Separatisten in Italien: Autonomie im Erbgut | |
> In Triest wurden einst alle Sprachen Europas gesprochen, der Hafen | |
> brachte Reichtum. Separatisten sagen, Italien sei schuld am Niedergang | |
> der Stadt. | |
Bild: Freie Tauben auf freiem Grund – der Platz der Einheit Italiens in Tries… | |
In den meisten Ländern der Europäischen Union handelt der Wahlkampf vom | |
Widerstreit zwischen Euro-Skeptikern und Euro-Befürwortern. Nicht so in | |
Triest: In dieser norditalienischen Hafenstadt fordern Separatisten | |
Wahlenthaltung. Und das soll nur der erste Akt einer vollständige Befreiung | |
vom Usurpator – dem italienischen Staat – sein. | |
„Triest war europäisch, bevor es das Europa, wie wir es heute beschreiben, | |
überhaupt gab“, sagt Bürgermeister Roberto Consolini. Er empfängt im | |
Ratssaal der Kommune. „Hier haben über Jahrhunderte verschiedene ethnische | |
Gruppen und Religionen zusammen gelebt. In den Straßen sprachen die Leute | |
Italienisch, Deutsch und Slowenisch. Damit waren die größten Sprachfamilien | |
der Europäischen Union vertreten: Romanisch, Germanisch und Slawisch.“ | |
Aus dieser Epoche sind die Kanäle geblieben, die Kirchen, die große | |
Synagoge und die Cafés, in denen sich zu Beginn des zwanzigsten | |
Jahrhunderts die größten Geister Europas trafen: Sigmund Freud, Umberto | |
Saba, Italo Svevo, James Joyce, Rainer Maria Rilke, Ivan Cankar. | |
Verwahrloste neoklassische Denkmäler blicken auf den seit 30 Jahren | |
verlassenen Alten Hafen, der die Stadt wie ein Drohung umgibt. | |
„Der Niedergang von Triest begann mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, als | |
die Stadt an das Königreich Italien fiel“, sagt der Schriftsteller Paolo | |
Rumiz. „Zu dieser Zeit fand eine echte Gehirnwäsche statt: Innerhalb von | |
zwei Jahren wurden 40.000 effiziente österreichische Bürokraten durch eine | |
inkompetente italienische Verwaltung ersetzt.“ Die slowenische und die | |
deutsche Sprache „wurden zugunsten einer radikalen Italianisierung | |
unterdrückt“, sagt Rumiz. | |
Dann kamen der Aufstieg des Faschismus, der Krieg, der kurzfristige | |
Anschluss an das Dritte Reich, der Partisanenkampf für die Befreiung und | |
die Pariser Friedenskonferenz 1947. Diese teilte das Territorium von Triest | |
in zwei Zonen: Zone A wurde von britischen und US-amerikanischen Soldaten | |
besetzt, Zone B wurde ein jugoslawisches Protektorat. Zusammen bildeten sie | |
das Freie Territorium von Triest (FTT). Genau dieser Name prangt noch heute | |
prächtig am Sitz der Triestiner Unabhängigkeitsbewegung an der Piazza della | |
Borsa. Wenige Schritte entfernt steht das Rathaus, wo am 18. September 1938 | |
Benito Mussolini die antisemitischen Rassengesetze verkündete. | |
## 563 Jahre unter Habsburg | |
Ein nostalgischer Seufzer vor dem Bild von Sir Thomas Winterton, dem | |
letzten Oberkommandeur des FTT, ein Blick auf die Kameras, die den Eingang | |
des Gebäudes kontrollieren – „Man weiß ja nie, ob der italienische | |
Usurpator kommt und uns alle verhaftet“ –, dann legt Roberto Giurastante | |
los: „Triest kann sich ganzer 563 Jahre unter Habsburgs Herrschaft rühmen – | |
und 25 Jahre unter einer katastrophalen italienischen Besatzung“, sagt der | |
Anführer der Separatisten vom Movimento Trieste Libera. | |
Giurastante behauptet: „Unter Österreich-Ungarn bestand hier eine perfekte | |
Balance zwischen verschiedenen Ethnien und Kulturen. Aber zuerst der | |
italienische Faschismus und dann das demokratische Italien haben sie | |
zerstört.“ Das Memorandum von London 1954 habe den Verwaltungsrat der Zone | |
A an Italien übergeben, aber die Souveränität über das Gebiet sei nie | |
ratifiziert worden. „Rechtlich ist die Stadt nicht italienisch, nicht | |
europäisch. Triest ist triestinisch, basta!“, ruft der Separatistenchef. | |
„Was einfach nur nach Irrsinn klingt“, kommentiert Bürgermeister Consolini, | |
„hat gravierende Bedeutung für die Europawahlen.“ 3.000 eingeschriebene | |
Mitglieder zählt die stetig wachsende Unabhängigkeitsbewegung. Doch dazu | |
kommen 30.000 Sympathisanten mit politischer und finanzieller | |
Unterstützung. Sie sind auch zu zivilem Ungehorsam gegen italienische und | |
europäische Gesetze und Steuervorschriften bereit. | |
Auch ein Termin für die Sezession ist schon festgelegt worden: Am 15. | |
September 2014 soll durch eine Volksabstimmung eine einheimische souveräne | |
Regierung gewählt werden. | |
„Die Autonomie steckt in der DNA der Triestiner“, sagt der Bürgermeister. | |
„In den 1970ern und1980ern drückte sich das in der Liste für Triest (Lista | |
per Trieste) aus.“ Heute sammle sich dieses Denken außer im Movimento | |
Trieste Libera auch in lokalen Wählervereinigungen. | |
Mit der Rückkehr der italienischen Verwaltung im Jahr 1954, sagt | |
Schriftsteller Rumiz, habe sich Triest, „dank der Ineffizienz der | |
Kommunalpolitiker, der Konkurrenz der anderen italienischen Häfen sowie | |
einer ungünstigen geografischen Position während des Kalten Krieges“ von | |
Mitteleuropas Hafen am Mittelmeer zum Randgebiet gewandelt. Nach dem | |
Beitritt Sloweniens zur EU habe Triest auf einen neuen Weg nach | |
Mitteleuropa gehofft. Doch: „So war es nicht“, klagt Rumiz. Die „lange | |
Agonie“ der Stadt sei „ein ideales Gewächshaus für eine parasitäre | |
herrschende Klasse“ gewesen, die nur Besitzstandswahrung betreibe. „In | |
Triest hat sich ein für den Unternehmergeist der Stadt tödliches Bündnis | |
zwischen der Bürokratie in der Hauptstadt Rom und dem lokalen Establishment | |
gebildet“, sagt Rumiz. | |
## Das größte Böse: Merkel | |
Die moderate Seite des Protestes stellt die Fünf-Sterne-Bewegung dar, die | |
2013 stärkste Kraft bei den nationalen (25,56 Prozent) und regionalen | |
Wahlen (27,22 Prozent) wurde. Was die Bewegung europapolitisch will, steht | |
im Blog ihres Chefs, des Komikers Beppe Grillo: Er ist gegen den Euro, | |
gegen vor allem das größte Böse, die deutsche Bundeskanzlerin Angela | |
Merkel. | |
„Triest ist natürlich italienisches Gebiet“, gesteht Paolo Menis zu. Er ist | |
Stadtrat für die Fünf-Sterne-Bewegung. „Aber bei vielen Themen, die vom | |
Movimento Trieste Libera angesprochen werden, sind wir absolut einer | |
Meinung.“ Italien und Europa seien Hindernisse für das Wachstum. Slowenien | |
mit seinen niedrigen Arbeitskosten sei eine bedrohliche Konkurrenz, der | |
EU-Fiskalpakt verhindere öffentliche Investitionen. | |
Der Kern der Debatte ist die Umstrukturierung des Alten Hafens: ein Areal | |
von 600.000 Quadratkilometern, das den Status eines Freihafens genießt. | |
„Meine Generation kann sich gar nicht mehr daran erinnern, dass in diesem | |
Hafen gearbeitet worden ist“, sagt der 40 Jahre alte Stadtrat Menis. | |
„Sicher ist nur, dass dieses Gebiet einfach ein Immobiliengeschäft für die | |
Partitokratie geworden ist.“ Nur die Fünf Sterne und der Movimento Trieste | |
Libera seien dafür, dass der Hafen wieder vollständig als Hafen genutzt | |
werde. „Das bedeutet aber auch, die Steuer- und Wirtschaftsbegünstigungen, | |
die der Status der Exterritorialität gibt, zu nutzen.“ | |
„Das Problem ist“, hält Bürgermeister Consolini dagegen, „dass der Alte | |
Hafen für die moderne Schifffahrt nicht benutzt werden kann.“ Die einzige | |
Lösung sei, den Freihafen an einer anderen Stelle neu zu gründen. Das aber | |
sei „so gut wie unmöglich, solange das jetzige Gebiet seinen Status | |
behält.“ Derzeit müssten alle in und aus dem Hafen kommenden Waren und | |
Menschen von den Zollbehörden überprüft werden. Das sei eine Einschränkung, | |
die bisher Investitionen an anderer Stelle verhindert habe. | |
„Um die Wirtschaft von Triest wieder zu beleben“, sagt der Stadtrat der | |
Fünf-Sterne-Bewegung, „benötigen wir ein angemessenes Zugnetzwerk, das den | |
Hafen mit Nordeuropa verbindet.“ Triest sei der ideale Hafen für Schiffe, | |
die aus dem ägyptischen Suezkanal kommen. Aber Europa habe bislang nur eine | |
Hochgeschwindigkeitsstrecke vorgeschlagen, die 20 Kilometer unter dem | |
Karstgestein hindurchführen soll. „Das wäre eine teure und gefährliche | |
Verbindung in einer geologisch sehr heiklen Zone – und eine Riesengefahr | |
für die Umwelt“, erklärt Menis. | |
50 Kilometer nördlich von Triest liegen das italienische Gorizia und das | |
slowenische Nova Gorica. Einst trennte der Eiserne Vorhang die | |
Schwesterstädte. | |
„Für uns war – und ist noch – die Europäische Union eine einzigartige u… | |
unverzichtbare Chance“, erklärt Damijan Terpin, Regionalsekretär von | |
Slovenska-Skupnost, der Partei für die slowenische Minderheit in | |
Friaul-Julisch Venetien. „Nicht nur weil sie uns mit unserem Vaterland | |
Slowenien wiedervereinigt hat“, sondern auch wegen der neuen ökonomischen | |
Chancen. | |
Die Italiener müssten verstehen, dass ihnen solche europäischen Chancen | |
entgingen, solange sie die Mehrsprachigkeit nicht wünschten und ihren | |
Provinzialismus nicht aufgäben. Terpin ergänzt: „Ich zum Beispiel bin der | |
einzige italienische Anwalt in Gorizia, der Slowenisch und Italienisch | |
spricht – und der einzige also, der für Slowenen arbeiten kann. Das ist | |
unglaublich.“ | |
## Nur drei Tage bis Suez | |
Der Sekretär hat auch einen etwas anderen Blick auf die Situation in | |
Triest: „Von Triest sind es nur drei Tage bis Suez. Aber statt mit den | |
Häfen Koper direkt nebenan in Slowenien und in Rijeka in Kroatien | |
zusammenzuarbeiten, „gehen die Container weiter nach Rotterdam, Antwerpen | |
und Hamburg“, sagt Terpin. | |
Wieder in Triest. Auf der Strandpromenade schlägt die Bora auf, mit | |
Windböen bis zu 160 Stundenkilometern. Man sagt, dass die Bora zum Wahnsinn | |
führt. | |
Auf einer Straßenlaterne auf der Piazza dell’Unità klebt ein Flyer. Darauf | |
ein Text, den man am 25. Mai im Wahllokal vorlegen soll. Er lautet | |
vollständig: „Ich erkläre meine Nichtstimmabgabe für die Europäischen | |
Parlamentswahlen 2014, da das Free Territory of Trieste als unabhängiger | |
und souveräner Staat und rechtliches Mitglied der UNO, derzeit unter | |
provisorischer Zivilverwaltung der italienischen Regierung aufgrund eines | |
Mandats der Internationalen Gemeinschaft, KEIN Mitgliedsstaat der | |
Europäischen Union ist und daher nicht von der Italienischen Republik oder | |
einem anderen Land vertreten werden kann.“ | |
Übersetzung aus dem Italienischen: Ambros Waibel | |
16 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Riccardo Valsecchi | |
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